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Bewusstlose Frauen vergewaltigt: Der Fall Marvin Sulfur. | ABC-Z

Manche Taten kommen nie ans Licht. Vielleicht wäre das auch im Fall von Marvin S. so gewesen, hätte nicht eine davon einen lebensgefährlichen Ausgang genommen.

Im April 2022 wählt S. die Nummer des Notrufs. Vor ihm liegt eine junge Frau, der Körper ist kalt, sie atmet nicht mehr. S. macht eine Herzdruckmassage, bis die Rettungskräfte eintreffen. Diese stellen einen Herz-Kreislauf-Stillstand fest, brauchen zwölf Minuten, um die Frau wiederzubeleben. Sie wird danach fünf Tage im künstlichen Koma liegen. Bis heute leidet sie unter den körperlichen und psychischen Folgen dessen, was in jener Nacht vor ihrer Reanimierung geschah.

Die damals Zwanzigjährige war S. begegnet, als sie auf dem Heimweg von einer Freundin war. Sie hatte Liebeskummer und war betrunken. S. sprach sie an, sie scherzten, das ist auf einer Sprachnachricht zu hören, die die junge Frau gemeinsam mit S. an eine weitere Freundin schickte. Sie beschlossen, zu S. nach Hause zu gehen, wo er sie ermunterte, mit ihm harte Drogen zu nehmen, mit denen er erfahren war, sie jedoch nicht. Die beiden hatten Sex, zuerst, so scheint es zumindest auf einem Video, das S. in der Tatnacht aufgenommen hat, einvernehmlich. Dann verliert die junge Frau mehr und mehr das Bewusstsein, ohne dass S. von ihr ablässt. Mit rotem Filzstift schreibt er „slut“ und „whore“, Schlampe und Hure, auf ihren Körper.

Auf dem letzten Video, das es von dieser Nacht gibt, ejakuliert S. in den Mund der jungen Frau, die sich „in einem Zustand tiefer Bewusstlosigkeit“ befindet. So steht es im Urteil des Berliner Landgerichts, das S. – bisher noch nicht rechtskräftig – in diesem Sommer unter anderem wegen Vergewaltigung und fahrlässiger Körperverletzung zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt hat.

Zum zweiten Mal auf der Anklagebank

Wenige Monate nach dem ersten Prozess sitzt S. zum zweiten Mal auf der Anklagebank – der erste Fall hat weitere Taten zutage gefördert. S. ist Ende 30, könnte aber auch jünger sein. Er trägt einen sehr kurzen Bart, ein schwarzes Sweatshirt und wirkt wie jemand, dem sein Aussehen nicht egal ist. Der Angeklagte kommt aus „behüteten, wohlsituierten Verhältnissen“, wie es im Urteil aus dem ersten Prozess heißt, hat einen Abschluss in BWL und in der Firma seiner Eltern als Geschäftsführer gearbeitet. Über die letzten Jahre begann er mehr und mehr Drogen zu nehmen, nach eigenen Angaben unter anderem Koks, Crack und Heroin. Auf den Videos der Taten scheint er dennoch einigermaßen klar, so ist es zumindest im Urteil des ersten Falls zu lesen. Wenn in den wenigen Momenten, an denen die Öffentlichkeit beim aktuellen Prozess zugelassen ist, Details seiner Taten besprochen werden, schaut S. zu Boden.

Im Verlauf des ersten Prozesses hatte das Gericht eine Auswertung seines Handys beantragt. Darauf fanden sich weitere Videos, auch sie zeigen bewusstlose Frauen, die S. sexuell missbrauchte. Vergewaltigung und besonders schwere Vergewaltigung lautet die Anklage im zweiten Prozess, es geht um insgesamt vier Taten zulasten von zwei Frauen. Außerdem wird S. die Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs vorgeworfen, weil er Videos und Bilder machte, ohne dass die Frauen es merkten. Allein von einer der Taten gibt es 13 Videos mit einer Gesamtlaufzeit von ungefähr einer Stunde.

Missbraucht von jemandem, den sie glaubten zu kennen

Die Frauen, die auf diesen Videos zu sehen sind, waren keine Zufallsbekanntschaften, wie im Fall des ersten Prozesses. Mit einer der beiden war S. im Jahr 2021 mehrere Monate, mit der anderen zu einem noch früheren Zeitpunkt drei Jahre zusammen.

Beide Ex-Partnerinnen, die eine Ende 20, die andere in den Vierzigern, erfuhren erst durch die Ermittlungen, dass sie vergewaltigt worden waren. Beide wurden Jahre später mit Videos konfrontiert, die sie in Situationen zeigen, an die sie sich nicht erinnern. Situationen, in denen sie von einer Person missbraucht wurden, die sie glaubten zu kennen und der sie vertrauten. Die jüngere der beiden verfolgt den Prozess regelmäßig, für sie sei das Teil der Aufarbeitung, sagt ihre Anwältin Magdalena Gebhard; sie wolle sich mit den Taten konfrontieren. Die andere Frau kommt nur für ihre Aussage. Sie möchte so wenig Öffentlichkeit wie möglich. Beide Frauen leiden ihren Anwältinnen zufolge stark unter dem Geschehen.

Schon am zweiten Verhandlungstag gesteht S. die ihm vorgeworfenen Taten. Es errege ihn, lässt er seinen Anwalt verlesen, wenn Frauen bewusstlos seien.

„Ich verfüge über sie“, schrieb der Angeklagte

Anwältin Gebhard plädiert vor Gericht dafür, die „geschlechtsspezifische Tatmotivation“ von S. strafverschärfend zu berücksichtigen. Sie liest aus dem Chat zwischen S. und einem anderen Mann vor, in dem, so sagt sie, das misogyne Motiv des Angeklagten deutlich werde. In diesem Chat verschickt S. Videos der Taten, auf denen klar zu sehen ist, dass die gefilmte Nebenklägerin bewusstlos ist. Einmal zieht er ihr Augenlid nach oben, um zu sehen oder zu zeigen, dass sie nicht reagiert. Dazu schreibt S. Sätze wie „Ich verfüge über sie“. Sein Chatpartner reagiert und fordert S. zu weiteren sexuellen Handlungen am Opfer auf. S. kommt dem nach und schickt zum Beweis ein weiteres Video. Auch gegen den Chatpartner wird inzwischen ermittelt.

Im Gespräch mit der F.A.S. sagt Gebhard, die Tatsache, dass Männer Inhalte wie diese ohne Angst teilten, spreche dafür, dass solche Taten häufiger vorkämen. Trotzdem gibt es keine verlässlichen Angaben zu der Frage, wie oft Frauen unter Betäubungsmitteln vergewaltigt werden. Bestimmte Substanzen sind nur kurze Zeit im Blut nachweisbar, die Opfer während der Tat bewusstlos. Im Zweifelsfall erfährt also niemand, was genau passiert ist, möglicherweise nicht einmal das Opfer selbst. So war es auch im Fall der Französin Gisèle Pelicot, durch die das Thema überhaupt erst ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gerückt ist.

Verletzt wird der „höchstpersönliche Lebensbereich“ des Opfers

Gebhard kritisiert, dass im aktuellen Fall nicht auch die Telegram-Chats von S. genauer angeschaut worden seien, sei das doch der Kanal, auf dem Männer Videos dieser Art häufig posteten. Von einem rechtlichen Standpunkt aus macht es der Anwältin zufolge keinen Unterschied, ob der Täter Videos, die ohne das Wissen der betreffenden Person aufgenommen worden sind, für sich behält oder ob er sie mit anderen teilt. Für beide Fälle heißt es im entsprechenden Paragraphen, dass der höchstpersönliche Lebensbereich des Opfers, seine Persönlichkeitsrechte verletzt wurden.

Aus Sicht der gefilmten Person sieht das vermutlich anders aus. Denn natürlich macht es einen Unterschied, ob sich das Video nur auf dem Handy eines Einzelnen befindet oder in einem privaten, vielleicht sogar öffentlichen Chat mit anderen geteilt wurde. Die Gefilmten haben keinerlei Kontrolle über die Verbreitung von Bildern, die sie in intimsten und erniedrigenden Situationen zeigen, können nicht darüber verfügen, wer was wie oft sieht. Schon während der Gerichtsverhandlung müssen sie ertragen, dass diese Videos allen Prozessbeteiligten gezeigt werden.

Bilder und Videos können die Taten beweisen

Auf der anderen Seite sind diese Bilder und Videos eine Möglichkeit, die Taten zu beweisen. Gibt es sie nicht, wird in vielen Fällen nicht einmal Anklage erhoben, und wenn doch, gestehen die Angeklagten viel seltener. Das sagt Laura Leogrande, Anwältin der älteren Nebenklägerin. Auch hierfür hätte der Fall Marvin S. ein Beispiel werden können: Obwohl die Polizei, nachdem S. im Fall der Zwanzigjährigen den Notruf betätigt hatte, von den Rettungskräften gerufen wurde und eine nackte, beschriftete, leblose Frau vorfand, nahm sie keine Ermittlungen auf und glaubte dem Täter, dass der Sex einvernehmlich gewesen sei.

Erst nachdem die Schwester des Opfers auch auf dessen Handy Videos der Taten fand, Videos, auf denen S. die junge Frau mehrfach auf den Genitalbereich schlägt, und die Familie auf Ermittlungen beharrte, wurde der Fall näher untersucht. Dass die Polizei nicht von selbst gehandelt habe, ist für Gebhard und Leogrande nicht nachvollziehbar. Inzwischen wird auch intern gegen die Polizei ermittelt. Aus dem Fall Marvin S. haben sich eine ganze Reihe weiterer Verfahren ergeben.

Der Gutachter sieht beim Angeklagten eine „sexuelle Präferenzstörung“

Die Einschätzung des Forensikers, der Angaben zu S.’ Drogenkonsum, Sexualverhalten und Persönlichkeit macht, findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Im ersten Prozess hatte derselbe Gutachter dem Angeklagten eine „sexuelle Präferenzstörung“ attestiert. Doch in keinem der beiden Verfahren hat S. mit dem Gutachter gesprochen, sodass dieser sich auf Beobachtungen und externe Informationen stützen muss.

Wenn an diesem Montag die Plädoyers verlesen werden, werden die beiden Vertreterinnen der Nebenklage auf Sicherungsverwahrung plädieren. Anwältin Leogrande möchte diesen Aspekt trotzdem nicht übermäßig betonen: „Ich will von der Annahme wegkommen, dass es hier nur um den gefährlichen Drogenabhängigen geht. Es geht auch um den Partner, dem man vertraut hat.“ Vergewaltiger seien immer die anderen: die Vorbestraften, die Drogenabhängigen, die Ausländer. Weil man sich eben schwer vorstellen könne, dass auch der Mann von nebenan solche Taten begeht. Dabei sei das eine Realität, in der wir leben. Auch die beiden Nebenklägerinnen hatten ihrem Ex-Partner solche Taten nicht zugetraut.

Das Urteil im Fall Marvin S. könnte schon am Montag fallen. Ob es der letzte Prozess gegen S. gewesen sein wird? Die Auswertung eines weiteren Handys steht noch aus. Außerdem haben mittlerweile zwei weitere Frauen Anzeige gegen ihn erstattet.

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