Balenciaga verabschiedet sich wohl von Streetwear-Ästhetik | ABC-Z

Das Designerkarussell dreht sich weiter – und bringt wieder einmal Überraschungen hervor. So hat der Luxuskonzern Kering am Montagabend Pierpaolo Piccioli zum neuen Kreativdirektor von Balenciaga ernannt. Der ehemalige Valentino-Designer soll der Pariser Marke nach dem Abschied von Demna neuen Schwung geben – und dem französischen Konzern nach einem schwierigen Jahr zu besseren Umsätzen verhelfen.
Denn Kering schwächelt. Im ersten Quartal belief sich der Konzernumsatz auf 3,9 Milliarden Euro – das entspricht einem Rückgang von 14 Prozent. Vor allem Gucci hängt durch: Die größte Konzernmarke fällt mit einem Minus von 24 Prozent auf gut 1,5 Milliarden Euro Quartalsumsatz. Auch Saint Laurent macht Umsatzverluste, während Bottega Veneta und weitere Marken leicht zulegen. Daher versucht es Konzernchef François-Henri Pinault mit Neubenennungen. Erst im Dezember hatte er Louise Trotter zur ersten weiblichen Chefdesignerin bei Bottega Veneta ernannt. Und Demna, der in seiner Arbeit als Designer ohne Nachnamen auskommen möchte, soll Gucci beleben.
Mehr abendtaugliche Mode im Sinne des „Couturiers der Couturiers“
Die Neubesetzung bei Balenciaga dürfte die Fans bis zum Äußersten strapazieren. Denn in seinen zehn Jahren als Designer hatte Demna mit seinem radikal disruptiven Stil viele traditionelle Kundinnen vergrämt und viele Trendjünger hinzugewonnen. Riesige Sneaker, überbreite Schultern, knielange Hoodies, hängende Jeans: Mit dem so verschwiegenen, anspruchsvollen und stilsicheren Meister Cristóbal Balenciaga hatte das nicht mehr viel zu tun.
Mit Pierpaolo Piccioli wird die Zeit nun zurückgedreht. Statt in jedem Sinne aufgeblähter Streetwear wird in Zukunft sicher mehr abendtaugliche Mode im Sinne des 1972 verstorbenen „Couturiers der Couturiers“ geboten. Das könnte auch darauf hindeuten, dass sich das Zeitalter der Baseballmützen und Kapuzenpullis langsam dem Ende zuneigt. Selbst Demna erschien nach seiner letzten Balenciaga-Prêt-à-porter-Schau im März backstage im maßgeschneiderten schwarzen Anzug.
Pierpaolo Piccioli hatte das italienische Modehaus Valentino 2024 nach mehr als acht Jahren als alleiniger Kreativdirektor verlassen; zuvor war er lange gemeinsam mit Maria Grazia Chiuri an der Spitze. Bekannt ist er vor allem durch seine lyrisch zarten Couture-Entwürfe mit vielen Rüschen, Volants und Spitzenkleidern sowie durch einzigartige Farbkombinationen. Er glaube nicht an Vorhersehung, schrieb Piccioli nun zu seiner Ernennung, „aber als ich durch meine persönliche Instagram-Seite scrollte, stellte ich fest, dass das allererste Bild, das ich hochgeladen habe, das Hochzeitsensemble von Cristóbal Balenciaga aus dem Jahr 1967 war“.
Francesca Bellettini, die Leiterin der Markenentwicklung bei Kering, hebt Picciolis Couture-Qualifikation hervor – über das traditionelle Handwerk soll wohl der Weg zurück zu den Wurzeln gehen. Gleichzeitig bedankte sie sich bei Demna, dessen letzter Auftritt für das Haus bei der Haute Couture im Juli erwartet wird, „für die mutige, unverwechselbare Vision“, mit der er „die Identität des Hauses in der heutigen Zeit geprägt“ habe. Das ist nett ausgedrückt, verdeckt aber die Tatsache, dass sich Balenciaga nach einer geschmacklos verunglückten Werbekampagne im Jahr 2022 nie wieder richtig erholt hat. Piccioli soll nach aufregenden Jahren nun vermutlich etwas Ruhe ins Modehaus bringen und das Vertrauen vergraulter konservativer Kundinnen zurückgewinnen.
Männer bekommen die Topjobs
Seit einem Jahr dreht sich das Designerkarussell so schnell wie vielleicht nie zuvor. Allein in diesem Jahr beginnen Neulinge bei Chanel, Gucci, Bottega Veneta, Celine, Loewe, Maison Margiela, Proenza Schouler und vermutlich auch bei Dior. Bei Balenciaga steht der Fahrplan schon fest: Seine erste Kollektion für das Haus wird Pierpaolo Piccioli bei der Pariser Modewoche im Oktober vorstellen.
Bemerkenswert an den aktuellen Neubesetzungen ist auch, dass wieder einmal Männer an die Topjobs kommen. Nur weniger als ein Drittel der drei Dutzend wichtigsten Designermarken haben Frauen an der kreativen Spitze. Außerdem ist die Gentrifizierung im Gange: Während Chanel sich den gerade mal 40 Jahre alten Matthieu Blazy holte, der Anfang Oktober seine erste Schau zeigen wird, hält sich der Kering-Konzern an altbewährte Namen – denn der 44 Jahre alte Demna und der 57 Jahre alte Piccioli sind schon lange im Geschäft.
Und auch der 56 Jahre alte Hedi Slimane und der 64 Jahre alte John Galliano, die beide gerade frei sind, werden immer wieder als Kandidaten für Führungsposten ins Spiel gebracht. In unsicheren Zeiten scheint die Modeszene den Trend zu verpassen, mit neuen Namen neue Dynamik zu entfesseln.