Geopolitik

Benjamin Netanjahu: „Das wird zu einer historischen Versöhnung zwischen Juden und Arabern resultieren“ | ABC-Z

Israels Premierminister Benjamin Netanjahu erklärt im Interview, wie er sich ein Ende des Krieges gegen die Hamas und die Hisbollah vorstellt. Kritik an der Behandlung der Zivilisten weist er von sich. Für die Zukunft des Gaza-Streifens hat er sich drei Ziele gesetzt.

Als Meilenstein bezeichnet Benjamin Netanjahu die Tötung des Hamas-Chefs Jahja Sinwar. „Dies ist der Beginn des Endes der Hamas“, sagte Israels Regierungschef in einer Videobotschaft an die palästinensische Bevölkerung. Es sei zwar noch nicht das Ende des Kriegs, aber „der Anfang vom Ende.“ Am Sonntag setzte die israelische Armee ihre Angriffe im Libanon und im Gazastreifen fort. Dieses Interview über die Ziele Israels an seinen vielen Fronten wurde kurz vor der Eliminierung des Hamas-Chefs geführt.

WELT: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat ein internationales Waffenembargo gegen Israel gefordert, und zwar für Waffen, die in Gaza und im Libanon eingesetzt werden sollen. Wie haben Sie darauf reagiert?

Benjamin Netanjahu: Israel ist der Ansicht, dass seine Freunde in Europa, wie auch Frankreich, an seiner Seite stehen sollten. Es ist unsere gemeinsame Zivilisation, die wir verteidigen, und zwar an sieben Fronten, gegen die iranische Achse des Terrors. In unserem Kampf gegen die Hamas, gegen die Hisbollah, gegen die Huthis und gegen das iranische Regime bekämpfen wir Menschen, die all die Werte verachten, die Europa verteidigt. In demselben Moment, in dem der Iran sicherstellt, dass seine terroristischen Hilfstruppen gut mit Waffen versorgt sind, ruft Frankreich zu einem Embargo gegen Israel auf. Obwohl wir aus Frankreich gar keine Waffen erhalten, empfinde ich diesen Aufruf als eine Schande.

WELT: Sie haben sich in einem Video direkt an die Menschen im Libanon gewandt und sie aufgefordert, selbst wieder Kontrolle über ihr Land zu übernehmen. Befürchten Sie nicht, dass Ihre Strategie, die Hisbollah zu schwächen, wieder zu einem Bürgerkrieg im Libanon führen könnte?

Netanjahu: Ein neuer Bürgerkrieg im Libanon wäre eine Tragödie. Wir wollen definitiv keinen Bürgerkrieg provozieren. Israel will sich nicht in die inneren Angelegenheiten des Libanon einmischen. Wir wollen es nur unseren Staatsbürgern, die entlang der libanesischen Grenze leben, ermöglichen, wieder nach Hause zurückzukehren und sich dort sicher zu fühlen. Ich bin der Meinung, dass das libanesische Volk eine Zukunft in Wohlstand und Frieden verdient hat. Und ich hoffe, dass die aktuelle Schwächung der Hisbollah, diese von Teheran gesteuerte Bewegung, die den Libanon allmählich als Geisel genommen hat, es den Libanesen ermöglicht, ihr Schicksal wieder in die eigene Hand zu nehmen.

WELT: Wann und wie wird Ihr Krieg im Libanon enden?

Netanjahu: Unser Ziel in diesem Krieg ist einfach, es geht uns darum, unsere 60.000 Flüchtlinge aus Galiläa nach Hause zu bringen und im Südlibanon sämtliche Terroristen-Netzwerke zu zerschlagen, die unsere Grenze erneut bedrohen könnten. Die Hisbollah muss bis über den Fluss Litani hinaus zurückgedrängt werden. Wir werden die terroristische Infrastruktur zerstören, die sie dort im Verlauf der letzten beiden Jahrzehnte errichtet hat. Als Premierminister Israels bin ich dazu verpflichtet mich zu versichern, dass die Juden nie wieder und von niemandem eine Genozid-Attacke wie die am 7. Oktober 2023 von der Hamas ertragen müssen.

WELT: Frankreich, Spanien und Italien werfen Ihnen vor, Gewalt gegen die UN-Truppe Unifil angewandt zu haben. Es gab mehrere Zwischenfälle mit Leichtverletzten…

Netanjahu: Wir haben nicht das Geringste gegen die Unifil. Es stimmt allerdings, dass sich die Hisbollah oft hinter den Posten der Unifil verstecken, um Raketen auf uns abzuschießen. Ich bedauere sehr, dass die nach dem Hisbollah-Israel Krieg von 2006 in der Resolution 1701 des UN-Sicherheitsrats beschlossenen Mechanismen nicht umgesetzt wurden. Ich möchte Sie daran erinnern, dass diese Resolution verlangte, dass die einzigen südlich des Litani-Flusses vorhandenen Waffen die der libanesischen Armee sein dürfen. Dennoch hat die Hisbollah sich in dieser Region Hunderte von Tunneln und Verstecke gegraben, in denen wir eine Menge topmoderner russischer Waffen gefunden haben. Wie viele Raketen der Hisbollah hat die Unifil in den letzten zwanzig Jahren gestoppt? Leider keine einzige.

WELT: Frankreich kritisiert eine geringe Anerkennung der UN vonseiten Israels. Macron hat Sie daran erinnert, dass Israel von ebendieser Organisation geschaffen wurde.

Netanjahu: Das ist ein Zeichen von historischer Ignoranz und eine Respektlosigkeit. Die UN haben das Recht des jüdischen Volkes auf einen Staat anerkannt, haben diesen aber definitiv nicht erschaffen. Das jüdische Volk ist seit über 3500 Jahren mit dem Land Israel verbunden. Der moderne Staat Israel wurde dank der Opfer mutiger Kämpfer während der Unabhängigkeitskriege erschaffen – darunter auch von zahlreichen Überlebenden des Holocausts und des französischen Vichy-Regimes – denen es gelang, die Angriffe von fünf arabischen Staaten abzuwehren, die sich gegen Israel verbunden hatten und den UN-Teilungsplan für das Mandatsgebiet Palästina nicht anerkennen wollten. Die UN haben am Unabhängigkeitskrieg von 1948 nicht teilgenommen. Zu sagen, dass die UN den Staat Israel geschaffen haben, ist eine erschreckende Verzerrung der Geschichte.

WELT: Der Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag hat die Ausstellung eines internationalen Haftbefehls gegen Sie und Ihren Verteidigungsminister beantragt, wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Gaza. Ebenso gegen die Anführer der Hamas. Nun wird die Antwort der drei Richter des IstGH erwartet. Der Hauptanklagepunkt gegen Sie ist, Hunger als Kriegswaffe einzusetzen. Wie lautet Ihre Antwort?

Netanjahu: Ich habe bereits US-Präsident Joe Biden gesagt, dass dieser gerichtliche Vorgang ein Skandal ist. Er stellt die demokratisch gewählte Regierung Israels auf ein und dieselbe Stufe mit einer völkermörderischen Terrororganisation. Diese angebliche Symmetrie ist absurd. Das ist etwa so, als hätte man nach dem Zweiten Weltkrieg Winston Churchill gemeinsam mit den Nazi-Führern wegen Kriegsverbrechen vor Gericht gestellt. Ich hoffe, dass der Gerichtshof, der rechtlich gesehen keinerlei Handhabe gegenüber israelischen Staatsbürgern besitzt, diese Anschuldigung nicht akzeptiert.

WELT: Doch was ist mit dem Inhalt der Anklage selbst?

Netanjahu: Die Behauptung, wir würden eine Politik des Aushungerns der Bevölkerung betreiben, entbehrt jeglicher Grundlage. Seit Kriegsbeginn haben wir 40.000 Lastwagen mit 800.000 Tonnen Lebensmitteln in den Gaza-Streifen hineingelassen, das sind 3000 Kalorien pro Tag für jede Person. Wir haben sogar Zufahrtsstraßen angelegt, damit die Lastwagen mit den Lebensmitteln dort ankommen, und wir haben die Erlaubnis zur Nachschublieferung auf dem Luft- und dem Seeweg erteilt. Zu behaupten, Israel verfolge eine Strategie des Aushungerns, ist eine himmelschreiende Verleumdung. Das Problem liegt darin, dass die Hamas die internationale humanitäre Hilfe an sich rafft, um ihre Helfershelfer zu versorgen.

WELT: Der Staatsanwalt wirft Ihnen außerdem vor, bei Militäroperationen aus der Luft oder am Boden bewusst auf Zivilisten in Gaza zu zielen.

Netanjahu: Auch diese Anschuldigung ist eine Verleumdung, denn wir tun genau das Gegenteil! Die israelische Armee ist viel weiter gegangen als irgendeine andere Armee auf dieser Welt, um die Verluste unter der Zivilbevölkerung so gering wie möglich zu halten, wobei sie allerdings gegen einen Feind kämpft, der alles dafür tut, dass es so viele zivile Opfer wie möglich gibt. Für uns Israelis ist jeder tote Zivilist eine Tragödie; für die Hamas ist es Teil ihrer Strategie. Die Hamas trägt die Schuld am Tod all dieser zivilen Opfer. Sie benutzt die palästinensische Zivilbevölkerung als menschliche Schutzschilde. Und sie wollen so viele zivile Opfer wie möglich, zu Propagandazwecken. Warum nutzen sie Krankenhäuser, Schulen und Moscheen als Abschussbasen für ihre Raketen? Nur, um sich vor der Antwort der israelischen Armee zu schützen. Und wenn wir zurückschießen, beschuldigt die Hamas Israel der Kriegsverbrechen an Zivilisten. Dabei verteidigen wir uns nur. Israel wirft Millionen von Flugblättern ab, verschickt SMS-Nachrichten und warnt Zivilisten auch per Telefon, damit sie sich von den nächsten Schlachtfeldern fernhalten. Das ist auch der Grund, warum das Verhältnis von toten Zivilisten und in Gaza getöteten Kämpfern bei einem Krieg dieser Art die niedrigste der Welt ist. Der bekannteste Experte der Welt für den Kampf in Stadtgebieten, Oberst John Spencer, Professor in West Point, hat bestätigt, dass Israel Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung trifft, wie sie noch keine andere Nation in einem modernen Kampf in Stadtgebieten ergriffen hat.

WELT: Wie lauten Ihre Pläne für die Zukunft des Gaza-Streifens?

Netanjahu: Unsere drei Ziele, die zu einem dauerhaften Frieden in Gaza führen sollen, sind erstens die Vernichtung der militärischen und politischen Kapazitäten der Hamas – das ist so schon beinahe geschafft. Zweitens die Demilitarisierung des Gaza-Streifens – die wird in jeder künftigen politischen Übereinkunft erreicht werden. Und drittens die Deradikalisierung der palästinensischen Bevölkerung in Gaza – es ist wichtig, dass man dort den Menschen nicht mehr von Jugend an beibringt, Juden zu hassen und zu massakrieren. Diese Deradikalisierung wird mithilfe von diesbezüglich erfolgreichen internationalen Partnern vor Ort erreicht werden. Das wird eine friedliche Zukunft garantieren, für Palästinenser wie Israelis.

WELT: Sie sind gegen die Zweistaaten-Regelung als Lösung für das Palästina-Problem. Wie lautet denn Ihr Vorschlag?

Netanjahu: Mein Lösungsvorschlag lautet seit Jahrzehnten: Die Palästinenser sollten alle Macht haben, um sich selbst regieren zu können, aber keine Macht, um Israel zu bedrohen. Ich war schon immer der Meinung, dass es eine Bedrohung für Israel bedeuten würde, wenn man den Palästinensern souveräne militärische Machtbefugnisse verleiht. Das war für mich bereits vor dem Pogrom des 7. Oktobers offensichtlich. Heute teilt eine große Mehrheit der Israelis meine Meinung: Israel muss die Sicherheitskontrolle behalten, vom Mittelmeer bis nach Jordanien. Die Tatsache, dass die palästinensische Autonomiebehörde nach wie vor Entschädigungen an Familien der von unserer Armee getöteten Terroristen zahlt und die am 7. Oktober 2023 begangenen Gräueltaten immer noch nicht verurteilt hat, ist enttäuschend. Ihnen heute einen eigenen Staat zuzuerkennen, wäre gleichbedeutend mit einer Prämie für Terrorismus.

Am Samstagmorgen wurde eine aus dem Libanon kommende Drohne über der Residenz des Premiers in Caesarea im Süden von Haifa abgeschossen. Es gab keine Verletzten, der Premier und seine Frau waren nicht vor Ort. Netanjahu sagte, den Versuch, ihn und seine Frau „zu ermorden“, würden Iran und dessen Verbündete noch bereuen. „Ich sage den Iranern und ihren Partnern der ‚Achse des Bösen‘: Jeder, der den Bürgern des Staates Israel Schaden zufügt, wird einen hohen Preis dafür zahlen“.

WELT: Sie werden mir sicher nicht sagen, wann und wie Israel auf den Angriff des Iran mit ballistischen Raketen am 1. Oktober 2024 reagieren wird. Aber wäre nicht doch noch ein diplomatischer Lösungsweg möglich?

Netanjahu: Sie haben recht, ich werde mit Ihnen nicht die militärische Antwort Israels diskutieren. Was die Diplomatie betrifft: Wie soll das gehen, wenn sie unsere Vernichtung fordern? Sollten wir mit ihnen darüber reden, wie man Israel von der Weltkarte verschwinden lassen kann? Das ist doch absurd. Lassen Sie mich aber betonen, dass wir nicht das großartige Volk der Iraner als Feind betrachten, sondern nur sein diktatorisches Regime. Sobald das iranische Volk wieder die demokratische Kontrolle seiner Regierung übernimmt, werden auch die persischen und jüdischen Nationen ihre exzellenten Beziehungen von früher wieder aufnehmen.

WELT: Glauben Sie, dass es Ihnen gelingen wird, einen Friedensvertrag mit Saudi-Arabien abzuschließen und diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen aufzubauen, zu dem Königreich, das ja wie Israel am Roten Meer liegt?

Netanjahu: Auf alle Fälle. Und es wird früher passieren, als Sie denken. Das wird einen fantastischen wirtschaftlichen Aufschwung für die ganze Region bedeuten. Es wird aber vor allem zu einer historischen Versöhnung zwischen Juden und Arabern führen, zwischen dem Judentum und dem Islam, zwischen Jerusalem und Mekka.

Dieser Artikel erschien zuerst in „Le Figaro“. Übersetzt aus dem Französischen von Bettina Schneider.

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