Benediktbeuern: Tracht im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne – Bad Tölz-Wolfratshausen | ABC-Z

Sommerzeit ist Volksfestzeit und somit Hochsaison für Dirndl und Lederhose. Aber was ist Tracht? Spätestens zum Oktoberfest kocht diese Frage alljährlich hoch. Antworten gibt es in der „Sammlung Tracht, Gwand, Mode“ im Kloster Benediktbeuern. In der Einrichtung des Bezirks Oberbayern forschen Sammlungsleiterin Lea Sophie Rodenberg und ihr Team, wie sich Mieder, Spencer, Kurze und Co. über die Jahrhunderte verändert haben. Denn Tracht war und ist immer ein Spiegel ihrer Zeit.
So ist das auch mit jenen Dirndln, die eigens für die Olympischen Spiele 1972 in München kreiert wurden. Sie sind das Thema von Lea Sophie Rodenbergs Dissertation. Genauer gesagt beschäftigt sich die 33-Jährige mit der Garderobe, die die Hostessen bei den Siegerehrungen damals trugen. Während die mehr als 1000 Betreuerinnen des sportlichen Events im Alltag in hellblauen Dirndln mit weißen Schürzen und Blusen Gäste und Athleten begrüßten, schuf die Trachtenschneiderin Brigitte Bogenhauser-Thoma aus Riedering einen eigenen Look für die Frauen, die die Medaillen an die erfolgreichen Sportlerinnen und Sportler zum Podest brachten. Elf Dirndl, die verschiedene Regionen Bayerns repräsentieren, entstanden so; drei weitere lehnten sich an Trachten aus dem Raum Schleswig-Holstein an – die Segelwettbewerbe wurden 1972 in Kiel ausgetragen.
„Es ist schon erstaunlich, in welch kurzer Zeit Brigitte Bogenhauser-Thoma die Dirndl umsetzte, von den Entwürfen bis zur fertigen Kleidung“, sagt Rodenberg. München wollte sich weltoffen präsentieren, modern und liberal. In dieser Aufbruchstimmung war angezeigt, keine althergebrachten Dirndl zu schneidern. Es ging Bogenhauser-Thoma um eine „Erneuerung“. Dabei habe sie sich an Entwürfen von Barbara Bogner orientiert, sagt Rodenberg. „Bisserl kürzer, weniger Trachtenverein, gut tragbar“ sollte es sein.


Neun der insgesamt 14 Dirndl aus dem Nachlass der Trachtenschneiderin sind Teil der Sammlung, die im Maierhof des Klosters Benediktbeuern untergebracht ist. Im Jahr 2000 wurde die Einrichtung des Bezirks Oberbayern, die ursprünglich Trachten-Informationszentrum hieß, gegründet. Inzwischen gehört die Sammlung zum Freilichtmuseum Glentleiten. Sie umfasst derzeit rund 20 000 originale Kleidungsstücke und Accessoires aus drei Jahrhunderten. Hinzu kommen noch circa 40 000 Fotografien sowie Musterbücher und mehr. Auf der Glentleiten werden nochmals etwa 20 000 Textilien aufbewahrt, allerdings eher für den Alltag Genutztes wie Tisch- oder Bettwäsche.

Den Nachlass von Brigitte Bogenhauser-Thoma aufzuarbeiten, ist Ziel von Rodenbergs Forschungsprojekt. Die Liebe zur bayerischen Tracht wurde bei der 33-Jährigen früh erweckt, obschon sie in Hildesheim in Niedersachsen geboren wurde. „Es gibt Fotos von mir als Mädchen im Dirndl“, sagt sie. Wenn Lea Sophie Rodenberg von ihrer Kindheit erzählt, dann spielen Garnrollen und Knöpfe eine wichtige Rolle. Sowie ihr Großvater Franz-Josef Springmann, der Schneidermeister war, und dem Klein-Lea über die Schulter geschaut hat. „Ich stamme aus einer Textilerfamilie. Da hatte Bekleidung schon immer eine große Bedeutung.“ Mit ihrem Großvater habe sie in der Modezeitschrift Vogue geblättert. Er habe ihr vermittelt, was „gutes Material und gute Verarbeitung“ seien. „Ich habe als Kind immer tolle Kleidung getragen.“ Und es habe zu Hause stets ein Faible für Tracht gegeben. Ihr Großvater selbst trug gerne einen Janker.

2017 ist Franz-Josef Springmann gestorben. Einige seiner Bekleidungsstücke hat die Enkelin aufbewahrt. Beim Gespräch in den historischen Gewölben des Maierhofs trägt Lea Sophie Rodenberg einen schwarzen Pullover über einer weißen, verspielten Bluse. Der Pulli gehörte ihrem Opa, sie habe ihn lediglich ein wenig gekürzt. An den Stücken hänge sehr viel Herzblut.

Die Liebe zu Stoffen, die unter kundigen Händen zur maßgefertigten zweiten Haut werden, liegt ihr also förmlich in den Genen. „Was wir am Körper tragen, hat für uns einen persönlichen Stellenwert“, sagt Rodenberg. Für die einen ist Mode eine der schönsten Nebensachen, für andere überflüssiger Luxus – aber keiner kommt an ihr vorbei. Die 33-Jährige sieht indes in Bekleidung weit mehr: Die künstlich geschaffene Hülle stiftet Identität und trägt maßgeblich zur Selbstwahrnehmung bei. Das war früher schon so und ist heute nicht anders. Schneidern ist nicht allein ein Handwerk: Von der Wahl des Stoffes bis zur Herstellung eines individuell passenden Produkts steht ein Prozess, der sorgfältige Überlegung und Planung erfordert. Der Stoff bestimmt nicht nur das Aussehen und die Haptik des Bekleidungsstücks, sondern auch seine Funktionalität, Haltbarkeit und Pflegeleichtigkeit.


Rodenberg hat Kunstgeschichte in München studiert. Nach der Bachelorarbeit über die Mode am Hofe Marie Antoinettes wechselte sie für den Master an die Universität Bern (Kunstgeschichte mit Schwerpunkt Geschichte der textilen Künste). Im September kommenden Jahres möchte sie ihre Dissertation abgeben. Die Zeit dränge, sagt sie. Letztlich solle ihre Forschungsarbeit nicht allein dazu dienen, einen akademischen Titel tragen zu können. Die Dirndl der Olympia-Hostessen sollen in einer umfassenden Ausstellung in Benediktbeuern der Öffentlichkeit gezeigt werden.


Nach mehreren Stationen, darunter eine Galerie und ein Auktionshaus, hat die 33-Jährige, die in München lebt, im Oktober 2021 ihre Stelle in der Bezirkseinrichtung aufgenommen. Die Archivierung, Dokumentation und wissenschaftliche Aufarbeitung von Tracht in all ihren Facetten ist nun ihr täglich Brot. Die gesamte Bandbreite der ländlichen Bekleidung in Oberbayern soll erfasst werden. Dabei gehe es nicht nur darum zu zeigen, welche Trachten in Vereinen getragen werden. Sie gehen in der Regel auf die Miesbacher Tracht um 1840 zurück. „Dirndl und mehr sind auch Thema der Popkultur. Es geht uns darum, was im Alltag auftaucht“, sagt Rodenberg. Daher plant sie, die Sammlung weiter auszubauen. „Wir haben relativ viele Stücke aus dem 19. Jahrhundert. Ich möchte gerne die Lücken zum 20. Jahrhundert schließen.“ Der Diskurs zwischen Vergangenheit und Gegenwart reizt die Sammlungsleiterin.
Doch zunächst sind da die Dirndl, die so anders daherkommen als die übrige Garderobe der Hostessen bei den Olympischen Spielen 1972. Franken, Oberbayern, Berchtesgadener Land, Chiemgau, Werdenfels – die Besonderheiten dieser Regionen versuchte Bogenhauser-Thoma, in ihre Entwürfe einfließen zu lassen. Um die norddeutschen Dirndl kreieren zu können, machte sich die Schneiderin aus Riedering auf den Weg in den Norden. Als Regionen wurden die Probstei, die Vierlanden und die Insel Föhr auserkoren. Bogenhauser-Thoma nannte ihre Entwürfe für Kiel: „… nordisch herb, aber doch bildschön …“ Für Lea Sophie Rodenberg bilden sie einen starken Kontrast zu den bayerischen Dirndln. „Wie aus der Zeit gefallen.“ Es gebe noch so vieles an ihnen zu entdecken.
Aktuelle Werkausstellung „anders beTRACHTet“, Maierhof im Kloster Benediktbeuern, Michael-Ötschmann-Weg 2, dienstags und donnerstags (außer an Feiertagen) sowie jeden ersten Sonntag im Monat von 11 bis 15 Uhr.