Zugbegleiter im Visier: Gewalt gegen Schaffner in Zügen nimmt zu | ABC-Z

„Als sie auf mich eingeprügelt hat, hat sie mich am Kehlkopf und am Ohr erwischt. Das hat dann auch im Krankenhaus geendet.“ Ninja Kollmer, 52, war Zugbegleiterin im Regionalverkehr zwischen München und Regensburg – bis zu einem Angriff durch eine Reisende Ende 2019. Das Ergebnis: „Ich hatte eine Kehlkopfprellung und Ohrenklingeln, und das war dann mein letzter Tag im Job.“
In München hatte sie erst einen Weihnachtsmarkt besucht und trat danach ihre Schicht in Richtung Regensburg an. Kurz vor Freising kontrollierte sie eine Passagierin und stellte fest, dass deren Ticket ungültig war. „Ich habe sie darauf angesprochen. Sie hat gleich angefangen zu schreien.“ Auch als sie einen Polizisten dazuholte, habe die Frau sich nicht beruhigt. Deshalb stieg Kollmer mit der Frau und dem Beamten an der nächsten Haltestelle aus. Die Frau habe weiter geschrien, so sehr, dass sie hyperventilierte: „Ich habe ihr gesagt, sie soll sich auf eine Bank setzen. Sie stand auf und schlug auf mich ein.“
Die Täter sind „überwiegend männlich“
Kollmers Erlebnis steht für ein systematisches Problem im Bahnbetrieb. Angriffe auf Mitarbeiter nehmen zu. Betroffen sind Zugbegleiter wie Kollmer, aber auch Servicemitarbeiter an den Bahnhöfen oder Lokführer. Die Bundespolizei hat im letzten Jahr 2789 Delikte gezählt, fast 60 Prozent davon sind Körperverletzungen. Beleidigungen werden in dieser Statistik nicht eingerechnet; ebenso fehlen darin Anzeigen, die bei den Landespolizeien aufgegeben wurden. Darüber hinaus gibt es eine hohe Dunkelziffer; viele Übergriffe melden die Betroffenen nämlich gar nicht bei der Polizei. Was macht das mit den Menschen hinter diesen Zahlen, die teilweise immer wieder gefährliche Situationen erleben? Und was unternimmt die Bahn gegen die wachsende Gewalt im Betrieb?
Mit diesen Fragen beschäftigt sich Tarek Bannoura von der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG). Er ist Geschäftsstellenleiter in Erfurt und oft mit Gewerkschaftsmitgliedern in Kontakt, die von ihren Erlebnissen berichten. Bannoura sagt, die Übergriffe hätten in den letzten Jahren zugenommen. Besonders auffällig sei das zu den Stoßzeiten, also zur Weihnachtsmarkt-Saison, während des Oktoberfestes oder vor Fußballspielen. Im Nahverkehr sei das Problem am größten: „Die Übergriffe sind komplett unabhängig von Klasse, Alter oder Herkunft. Vom Manager bis zum Discogänger. Aber die Täter sind überwiegend männlich.“
„Ich steche dich ab, du kleiner Pisser“
Einheitliche Zahlen zu den Übergriffen gibt es nicht. Die Polizeistatistik erfasst andere Zahlen als die Bahnunternehmen oder Gewerkschaften. Denn nicht alle beim Arbeitgeber gemeldeten Vorfälle werden zur Anzeige gebracht. Die EVG bietet ihren Mitgliedern Unterstützung durch eine Hotline. „Dort können Mitglieder anrufen, wenn sie einen Übergriff erlebt haben“, sagt Bannoura. „Wir melden uns dann im Nachhinein bei ihnen und kümmern uns gemeinsam darum, wie wir das Thema aufarbeiten können.“ Außerdem hat die EVG 2024 eine Umfrage unter 4000 Mitgliedern durchgeführt. Demnach haben 82 Prozent bereits einen verbalen oder körperlichen Übergriff erlebt. Bespucken, Bewerfen mit Gegenständen, Schubsen und Festhalten zählen zu den häufigsten Übergriffen.
Servicemitarbeiter Felix Schmidt wurde ebenfalls schon Opfer solcher Attacken. Er arbeitet am Hauptbahnhof einer deutschen Großstadt, heißt eigentlich anders, möchte aber anonym bleiben. Er sagt, eigentlich verbiete sein Arbeitgeber ihm, mit der Presse zu sprechen. Auf Rückfrage dazu antwortet die DB: „Der Kontakt mit Medien läuft bei der DB ausschließlich über die Pressestelle. Dies dient auch dem Schutz unserer Mitarbeitenden.“ Schmidt entscheidet sich, trotzdem zu erzählen.
Einen von vielen Zwischenfällen erlebte er an einem Novemberabend, zur Stoßzeit. Eine S-Bahn musste wegen hoher Verspätung ungeplant enden. Schmidt erklärte am Bahnsteig einem wütenden Fahrgast, dass der Anschlusszug bereits an Gleis eins stehe. Das beruhigte den Mann jedoch nicht. Bevor er schließlich zu seinem Zug ging, brüllte er Schmidt noch zu: „Pass auf, du kleiner Wichser, man sieht sich immer zweimal im Leben, und dein Gesicht merke ich mir. Wenn ich dich noch einmal sehe, ich steche dich ab, du kleiner Pisser.“
Seit über zehn Jahren arbeitet der 27-jährige Schmidt für die Deutsche Bahn. Er erlebt fast täglich verbale Attacken durch Reisende; zu körperlichen Angriffen kam es bereits zweimal. „Gerade in der Urlaubszeit, wenn viele Menschen unterwegs sind und dann auch noch Züge verspätet, werden die Leute verständlich wütend. Aber diese Wut entlädt sich oft an uns, und wir sind dann quasi der Prellbock für die Aggression.“
Die eigentliche Quelle der Frustration ist nicht erreichbar
Jonas Rees von der Universität Bielefeld forscht zum Thema Aggression. Er ist Professor für Politische Psychologie und beschäftigt sich mit Gruppendynamiken sowie Konflikten und Gewalt innerhalb und zwischen Gruppen. Seit vergangenem Jahr arbeitet er an einem Projekt, das Gewalt gegen Bahnbeschäftigte erforscht. „Wir wissen nicht so viel, wie wir eigentlich wissen müssten. Das ist frustrierend“, sagt er. Vieles gehe im Alltag unter. Betroffene hätten vielleicht Angst, ihren Vorgesetzten Vorfälle zu melden: „Weil sie Sorge haben, nicht mehr eingesetzt zu werden. Weil die Vorgesetzten sagen, wenn du nicht so tough bist, dann bist du im falschen Job.“
Was Rees jedoch sagen kann: „Wir sehen, dass die Gewalt auch in anderen Kontexten steigt. Wir sehen eine generelle Zunahme von Gewaltdelikten, beispielsweise in der polizeilichen Kriminalstatistik.“ Das betreffe seit 2015 eben auch Beschäftigte im Bahnverkehr.

Einer der Ansätze, die Rees’ Projektteam verfolgt, geht von einer Verschiebung der Aggression aus: Diese verlagert sich auf Unbeteiligte, weil die eigentliche Quelle der Frustration nicht erreichbar ist. Dann trifft die Wut über die Verspätung beispielsweise den Schaffner, der selbst natürlich nichts dafür kann. Zudem bringen Menschen individuelle Veranlagungen mit, wie sie auf Stresssituationen reagieren. Manche hätten gelernt, schnell gewaltbereit zu sein, so Rees: „Wenn Fahrgäste vorher schon verbal aggressiv sind, also wenn sie pöbeln und motzen, dann ist bei denen auch die Wahrscheinlichkeit für tatsächliche körperliche Gewalt erhöht.“
Und was für Menschen neigen nun besonders zu einem solchen Verhalten? Rees sagt: „Wir reden manchmal von diesem Problem, als ginge es um eine klar umgrenzte Gruppe auffälliger Gewalttäter. Aber umgekehrt müssen wir auch erklären, warum ganz normale Menschen in der Bahn ausfällig werden und anfangen, Leute zu beleidigen und letztlich zuzuschlagen.“ Ein Faktor könne sein, „dass wir uns in einer dauergestressten Krisensituation befinden“, sagt Rees. Eine kollektiv kürzere Zündschnur könne auch Symptom einer gesellschaftlichen Grundstimmung sein.
Ninja Kollmer fährt nicht mehr in der zweiten Klasse
Von diesem gesellschaftlichen Grundton spricht auch Tarek Bannoura. Der Gewerkschafter beobachtet, dass die Hemmschwelle der Menschen sinke. Auch das generelle Aggressionspotential innerhalb der Gesellschaft habe zugenommen. „Beispielsweise werden bei Fußballspielen Züge teils komplett demoliert.“ Damit der Alltag für Bahnmitarbeiter sicherer wird, hat die EVG verschiedene Forderungen aufgestellt: „Idealerweise wollen wir immer eine Doppelbesetzung von Zügen. Das heißt, dass zwei Zugbegleiter unterwegs sind oder ein Zugbegleiter mit weiterem Sicherheitspersonal. Aber auch mehr Sicherheitspersonal. An Bahnhöfen braucht es mehr Polizei und qualifizierte Security.“ Gleichzeitig müsse die Öffentlichkeit mehr Druck auf die Politik ausüben, damit mehr Gelder für die Sicherheit bereitgestellt würden. Zudem sollte überlegt werden, das Strafmaß für Übergriffe auf Zugpersonal anzuheben.
Die polizeiliche Statistik kann helfen, mehr Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken. Felix Schmidt hat aber noch nie Anzeige erstattet. Er erhoffe sich davon nicht viel, sagt er, vor allem weil die Schuldigen meist bereits verschwunden seien, bevor die Polizei ankommt. Der DB hat er die Übergriffe aber über offizielle Formulare gemeldet und dabei auch ausführlich den Tathergang beschrieben. Die Bahn gibt an, das gehe mittlerweile sogar über eine App auf dem Diensthandy.

Dass das Melden etwas nützen würde, hat Schmidt jedoch nicht bemerkt: „Man hat oft das Gefühl, dass damit gar nichts passiert.“ Er zeigt sich ernüchtert. „Man gewöhnt sich leider irgendwann dran. Das klingt jetzt vielleicht doof, aber man hat das jetzt schon so oft erlebt. Man lernt dann irgendwann, damit umzugehen und sich das nicht zu Herzen zu nehmen.“ Er würde sich für seinen Joballtag mehr Sicherheitspersonal wünschen, gerade an kleineren Bahnhöfen sei er oft allein. „Oder dass wir Bodycams oder Abwehrspray bekommen.“
Die Deutsche Bahn als einer der größten Arbeitgeber im Land setzt manche dieser Wünsche bereits um – den Einsatz von Bodycams will sie etwa ausweiten. „Sie haben eine präventive Funktion, wirken deeskalierend und liefern notwendiges Beweismaterial“, sagt eine Pressesprecherin. Außerdem bietet die Bahn sogenannte Deeskalationstrainings für ihre Mitarbeiter an, in denen diese lernen, mit brenzligen Situationen umzugehen. Und nach Übergriffen können sie bei der Bahn psychotherapeutische Gespräche in Anspruch nehmen.
Doch nicht allen Mitarbeitenden reichen diese Angebote. Die ehemalige Zugbegleiterin Ninja Kollmer hatte schon vor dem Übergriff 2019 über einen Wechsel in den Innendienst nachgedacht, sich aber dagegen entschieden, weil sie nicht nach München ins Büro pendeln wollte. Noch im Krankenhaus entschied sie sich doch dazu – nach zehn Jahren als Zugbegleiterin. Sie brachte den Übergriff auch vor Gericht, doch die Sache endete mit einem Täter-Opfer-Ausgleich, mit dem Kollmer nicht zufrieden ist.
Mittlerweile arbeitet sie in einem Bürojob bei der Bahn. Wenn sie nach München pendelt, sitzt sie in einem Abteil der ersten Klasse oder im Führerstand. Sie habe lange Zeit Probleme gehabt, unter vielen Menschen zu sein. „Eigentlich bestätigt es mich immer wieder: Gott, bin ich froh, nicht mehr auf dem Zug zu sein.“