Berlin

Besuch im Kernkraftwerk Rheinsberg: “Hier jetzt wirklich nichts anfassen” | ABC-Z

Besuch im Kernkraftwerk Rheinsberg

“Hier jetzt wirklich nichts anfassen”


So 26.10.25 | 09:00 Uhr | Von Pauline Pieper

Bild: rbb/Pauline Pieper

Eigentlich sollte hier längst eine grüne Wiese sein. Stattdessen steht mitten im Naturschutzgebiet in Rheinsberg das erste Atomkraftwerk der DDR. Seit 30 Jahren läuft der Rückbau – und ein Ende ist nicht in Sicht. Von Pauline Pieper

Durch den Wald im Naturschutzgebiet bei Rheinsberg (Ostprignitz-Ruppin) führt eine schmale Straße. Dann taucht ein Metalltor auf: Die Gitterstäbe formen eine Friedenstaube auf dem Atomsymbol. Noch ein paar Hundert Meter weiter steht es – umgeben von Betonmauer und Stacheldraht: das erste Kernkraftwerk der DDR, einst Stolz des Landes, heute Überbleibsel einer Technologie, von der man sich abgewendet hat.

Seit 35 Jahren wird hier kein Strom mehr erzeugt. 1990 wurde das Kernkraftwerk nach 24 Jahren Betriebszeit aus Sicherheitsgründen abgeschaltet. Seit 1995 läuft der Rückbau – eigentlich sollte er 2014 abgeschlossen sein. Doch das Kraftwerk steht immer noch. Warum dauert das so lange?

Das Tor zum Kernkraftwerk Rheinsberg
Das Tor zum Kernkraftwerk RheinsbergBild: rbb/Pauline Pieper

Bevor man den Kontrollbereich betritt, erklärt Strahlenschutzbeauftragter Matthias Fischer die Regeln: nichts anfassen, nicht essen und trinken, alle Anweisungen befolgen. Alle müssen ihre Kleidung vollständig wechseln – orangefarbener Overall, Helm und Maske. Die müsse man aufsetzen, “falls ein Alarm kommt”. Außerdem erhält man ein Dosimeter, das Strahlung misst. Noch steht es auf Null.

Mehr als 300 Räume und 70.000 Tonnen Beton

Hinter der Personenschleuse führt der Weg viele Treppenstufen hoch in die Räume, die am weitesten vom ehemaligen Reaktor entfernt sind – und wo der Rückbau schon am weitesten fortgeschritten ist. “Das ist der Zustand, den wir eigentlich sehen wollen”, erklärt Fischer. Hier stehen nur noch die rohen Betonwände. Alle Schrauben sind demontiert, Farbe und Lack entfernt, Leitungen ausgebaut. Jedes einzelne Bauteil muss auf Radioaktivität gemessen und entsprechend entsorgt werden. Vier Monate dauere es, bis so ein 60-Quadratmeter-Raum “freigemessen” ist. Gutachter der Atomaufsichtsbehörde überwachen und bewerten jeden einzelnen Schritt.

Mehr als 300 Räume müssen auf diese Weise dekontaminiert werden. Um das gesamte Kernkraftwerk abzubauen, müssen 70.000 Tonnen Beton entfernt werden, der teils bis zu neun Meter tief in die Erde geht.

Ein Dosimeter misst die Radioaktivität
Ein sogenanntes Dosimeter misst die Radioaktivität.Bild: rbb/Pauline Pieper

Nicht nur die kleinteilige Arbeit und die strenge Überwachung verzögern den Rückbau, wie Markus Lindner, Geschäftsführer der EWN Entsorgungswerk für Nuklearanlagen GmbH erklärt. Das bundeseigene Unternehmen ist seit 1995 für den Rückbau des Kernkraftwerks zuständig. “Wir wissen nie, was uns erwartet beim Rückbau.” Teilweise seien die alten Baupläne nicht präzise. Der Rückbau sei bei der Erbauung gar nicht mitgedacht worden.

Zwischenzeitlich habe der Bund während der Pandemie zudem Mittel gekürzt. Bisher kostete der Rückbau bereits 850 Millionen Euro, vollständig finanziert vom Bund. Nach aktueller Planung würden sich die Kosten auf 1,5 Milliarden belaufen, sagt Lindner.

Bohrlöcher in der Wand des Kernkraftwerks in Rheinsberg
Der Rückbau des Kernkraftwerks erfordert viel Präzision.Bild: rbb/Pauline Pieper

Entsorgungsunternehmen gewinnt Klage gegen Ministerium

Zuletzt hatte auch eine Anordnung des Brandenburger Umweltministeriums den Rückbau verzögert. Die Atomaufsicht untersagte eine geplante Probenahme von radioaktivem Schlamm – aus Sorge um den Arbeitsschutz. Das Entsorgungsunternehmen klagte und gewann Mitte Oktober vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg. “Wir haben dadurch fast ein Jahr Zeit verloren im Rückbau”, sagt Geschäftsführer Lindner. Die Anordnung sei absolut nicht nachvollziehbar gewesen. Man prüfe eine Schadenersatzforderung.

Wie aufwendig der Rückbau ist, wird beim weiteren Rundgang durch den Kontrollbereich deutlich. “Es gibt Personen, die den ganzen Tag nur damit beschäftigt sind, Wischtests durchzuführen”, erklärt Christian Held, Leiter des Rückbaus. Mit einer Art Wattepad werden Wände und Böden abgewischt und ihre Radioaktivität bestimmt – 25.000 Tests pro Jahr, um Kontaminationen zu erfassen und sicherzustellen, dass sie nicht nach außen gelangen.

Das Kernkraftwerk Rheinsberg von außen
Das Kernkraftwerk von außenBild: rbb/Pauline Pieper

Radioaktive Stoffe kommen ins Zwischenlager nach Lubmin

“Hier jetzt wirklich nichts anfassen”, sagt Betriebsleiterin Annette Schulz in der riesigen Halle, wo sich einst die Quelle der radioaktiven Strahlung befand: der Reaktor. Er wurde schon 2007 ins Zwischenlager in Lubmin bei Greifswald gebracht. Auch der Kernbrennstof befindet sich dort. Ein Endlager für hochradioaktive Stoffe wird in Deutschland noch gesucht.

In der Halle werden mittlerweile die verschiedenen Bauteile des Kraftwerks sortiert und zerkleinert. Was strahlt, wird von den Beschäftigten in den berühmten gelben Fässern verstaut und ebenfalls ins Zwischenlager gebracht. Gefährlich sei die Arbeit hier aber nicht, erklärt Schulz. Den gesetzlichen Grenzwert von 20 Millisievert pro Person pro Jahr erreiche niemand. Die gesamte Belegschaft sei insgesamt im Jahr 2024 nur auf einen Wert von 0,9 Millisievert gekommen.

Jahrelang arbeiten, nur um ein Gebäude abzureißen – traurig findet das Schulz nicht: “Rückbau ist wirklich eine Herausforderung und genauso spannend wie der Betrieb.” Unter den 130 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Rheinsberg sind Bauingenieure, Elektriker, Statiker, Physiker und Chemiker. Trotzdem war der Rückbau nicht für alle leicht. “Wenn die, die das aufgebaut haben, es rückbauen soll, dann heulen die”, sagt Christian Held, Leiter des Rückbaus. Deswegen gebe es eine Faustregel zur Zusammensetzung der Mitarbeiter: “Ein Drittel aus der ehemaligen Betriebsmannschaft, ein Drittel Erfahrene im Rückbau und ein Drittel Neue.”

Gelbe Fässer mit radioaktivem Abfall im Kernkraftwerk Rheinsberg
In diesen bekannten gelben Fässern befindet sich radioaktiver Abfall. | Bild: rbb/Pauline Pieper

Einst arbeiteten rund 650 Menschen im Kernkraftwerk Rheinsberg

Einst war das Atomkraftwerk in Rheinsberg eine Attraktion. Es war der erste Kernreaktor, der aus der Sowjetunion exportiert wurde. Als Kraftwerk der ersten Generation erzeugte es bis zu 70 Megawatt Strom. Damit konnte damals eine Stadt wie Potsdam versorgt werden. Rund 650 Menschen waren im AKW beschäftigt, es wurde eine eigene Wohnsiedlung für sie gebaut.

Heutzutage sei es schwierig, Fachkräfte zu finden, die sich für den Rückbau von Kernkraftwerken interessieren, sagt Geschäftsführer Lindner. Seit Deutschland den Atomausstieg beschlossen hat, habe die Kernenergie sehr an Attraktivität verloren. Dabei werde der Rückbau Deutschland noch jahrzehntelang beschäftigen.

Am Ende des Rundgangs im Kernkraftwerk Rheinsberg zeigt das Dosimeter immer noch Null. “Keine Kontamination”, sagt eine Computerstimme im Ganzkörperscanner. Nach aktueller Planung soll der Rückbau hier Mitte der 2040er Jahre abgeschlossen sein. Ob das gelingt, kann wohl keiner vorhersagen.

Sendung: rbb24 Brandenburg aktuell, 25.10.2025, 19:30 Uhr

Beitrag von Pauline Pieper


Back to top button