Wie viel sollte man funktionieren? |ABC-Z

Manchmal muss auch der Landarzt Urlaub machen. Es war geplant, dass wir ein paar Tage auf Rügen verbringen. Ich freute mich wahnsinnig darauf, weil ich noch nie auf Deutschlands größter Insel war. Als alter Romantiker und Caspar-David-Friedrich-Fan war ich gespannt auf das „magische“ Licht auf der Insel. Vor der Reise nach Rügen hatte ich mir schon einige Tage freigenommen, um einmal durchzuatmen, Koffer zu packen und mich in die Reiselektüre einzulesen. Doch das klappte nicht.
Am Samstag vor dem Reisestart bekam ich einen Anruf: Ein guter Freund litt unter massiver Übelkeit bei einer Chemotherapie. Ich fuhr sofort hin, legte ihm eine Infusion und spritzte ihm ein Medikament. Gott sei Dank ging es ihm schnell besser.
Kaum war ich zu Hause, bekam ich einen Anruf eines besorgten Großvaters. Seinem Enkel, 16 Jahre alt, ging es seit zwei Wochen schlecht. Er litt unter Kopfschmerzen und Fieber. Ob ich nicht mal nach ihm schauen könnte, fragte er mich. Der Junge ist nicht mein Patient, aber den Großvater kenne ich seit Jahren. Ich konnte seinen Wunsch nicht abschlagen. Beim Eintreffen öffnete mir die besorgte Mutter die Haustür. Ihrem Sohn ging es wirklich nicht gut. Die Kinderärztin, bei der sie waren, ging von einem Infekt aus. Ich fragte auch nach Insekten- oder Zeckenstichen, beides wurde verneint. Eine Nackensteifigkeit konnte ich ausschließen. Ich war etwas ratlos. Sicherheitshalber verschrieb ich ein Antibiotikum und verließ nachdenklich das Haus.
Er hatte eine Hirnhautentzündung
Am nächsten Tag, einem Sonntag, rief mich die Mutter erneut an – dem Patienten ging es nicht besser. Ich untersuchte ihn noch einmal, es ging ihm sogar eher schlechter. Das Fieber war nicht gesunken, die Kopfschmerzen waren nicht besser, und er war deutlich verlangsamt. Ich machte mir Sorgen, da er für sein Alter schwer erkrankt war. Ich schickte ihn in die Klinik. Es stellte sich heraus, was ich vermutet hatte: Er hatte eine Hirnhautentzündung nach einem Zeckenstich entwickelt.
Der Junge war zuvor mit seinen Großeltern im Urlaub in Bayern gewesen. Dort muss er unbemerkt von einer Zecke gestochen worden sein und hatte sich mit FSME infiziert. Jedes Jahr erkranken etwa 700 Menschen daran – also relativ wenige. Aber wenn es einen erwischt, ist es eine schwere Erkrankung und kann Langzeitfolgen haben.
Also bitte, liebe Leserinnen und Leser, lassen Sie sich dagegen impfen.
Nach dieser doch bedrückenden Geschichte dachte ich: Nun kann der Urlaub losgehen. Doch als ich am Abend vor dem Abreisetag die Koffer ins Auto brachte, stand ein Nachbar neben mir und fragte: „Können Sie mal kommen?“ Einem anderen Nachbarn gehe es nach einer Operation sehr schlecht. Ich ging sofort mit, es war Gott sei Dank nicht ganz so schlimm, und ich konnte ihm schnell helfen.

Am nächsten Morgen fuhren wir dann wirklich los. Mir gefiel Rügen direkt: Wir hatten ein schönes Hotel, das Wetter war klasse, die Luft frisch. Abends wollten wir im Hotel essen gehen, das Restaurant aber war geschlossen. Als ich fragte, warum, bekam ich die Antwort: „Wir finden keine Leute mehr, die abends und am Wochenende bereit sind zu arbeiten, obwohl wir gut zahlen.“ Ich musste kurz stutzen und dachte zurück an meine freien Tage zu Hause. Vielleicht sollte ich auch mal über meine Arbeitseinstellung nachdenken. Ich scheine eine völlig altertümliche Annahme von Verpflichtung und Arbeit zu haben. Doch ich verwarf den Gedanken – an meiner Einstellung zum Arbeiten wird sich so schnell nichts ändern.
Wir haben dann noch ein schönes anderes Restaurant gefunden. Rügen kann ich als Reiseziel empfehlen. Haben Sie eine gute Woche – Ihr Landarzt