Baseballspieler Shohei Ohtani im Porträt: Sho-Time in Los Angeles – Sport | ABC-Z
Shohei Ohtani stand gewiss nicht in der Schlange, an deren Ende die Götter die Fähigkeit zur Selbstbeweihräucherung an die Menschen verteilten. „Och“, sagte er nach diesem historischen Spiel gegen die Tampa Bay Rays kürzlich, das die Überfigur der Los Angeles Dodgers mit einem Walkoff-Grand-Slam-Homerun entschieden hatte. Das ist im Baseball der Ausdruck dafür, wenn sämtliche Laufmale besetzt sind und der Schlagmann den Ball auf die Tribüne prügelt – er seiner Mannschaft also auf einen Schlag die Maximalzahl an vier Punkten und den Sieg beschafft. Ein bisschen wie ein Volleytreffer in den Torwinkel, der einem Fußballteam in der Nachspielzeit den Triumph garantiert.
„Och“, sagte Ohtani also nach einem wieder einmal denkwürdigen Auftritt. Ein Punkt hätte seiner Mannschaft auch zum Sieg erreicht, und er wäre auch zufrieden gewesen, sagte er, hätte er diesen Punkt mit einem weniger majestätischen Schlag oder einem Walk herbeigeführt (wenn der gegnerische Werfer den Schlagmann mit vier Fehlwürfen einen Spaziergang zur ersten Base spendiert). Er sei aber „sehr begeistert“, sagte Ohtani. Diesen zweiten Satz sagte er wie einer, der weiß, dass man in so einem Moment nun mal große Begeisterung bekunden muss.
Seit 2018 spielt Ohtani in der Major League Baseball (MLB), der besten Baseball-Liga der Welt, und man kann gefahrlos festhalten, dass der Japaner die in ihn gesteckten Erwartung als größte Attraktion seines Sports mindestens erfüllt. Sein Homerun gegen die Tampa Bay Rays war sein 40. in dieser Saison; fünf Spielabschnitte zuvor hatte er seine 40. Base dieser Spielzeit stibitzt – wenn einer ohne Schlag des Kollegen schneller zum nächsten Mal läuft, als der Gegner den Ball dorthin werfen kann. 40 Homeruns und 40 Stolen Bases in einer Saison, die Verschmelzung von Kraft und Tempo also, das hatten vor Ohtani bislang nur José Canseco (Oakland A’s, 1988), Barry Bonds (San Francisco Giants, 1996), Alex Rodriguez (Seattle Mariners, 1998) und Ronald Acuna jr. (Atlanta Braves, 2023) geschafft. Keiner erreichte beide Meilensteine in einer Partie, keiner mit einem Walkoff-Grand-Slam-Homerun.
Es ist mal wieder Sho-Time in Los Angeles!
Und damit sind erst zwei überragende Talente des 30-Jährigen abgedeckt: Er ist nicht nur Homerun-Knüppler und Base-Stibitzer, sondern auch noch einer der besten Werfer der nordamerikanischen Profiliga MLB. Auf Fußball übertragen würde man sagen: Da ist einer Torschützenkönig, hat zudem die meisten Flanken hingelegt und die wenigsten Tore kassiert. Das ist vor allem im hochspezialisierten Profibaseball höchst ungewöhnlich. Als Werfer wird Ohtani in dieser Saison nach einer Operation am Ellenbogen zwar nicht mehr eingesetzt, auf einer anderen Verteidigerposition spielt er in diesem Jahr auch nicht – was beim Wechsel in der vergangenen Winterpause vom Lokalrivalen Los Angeles Angels angesichts des höchstdotierten Profivertrags der Geschichte (700 Millionen Dollar für zehn Spielzeiten) aber die Hoffnung nährte, dass Ohtani in der Offensive explodieren würde.
Dann, kurz vor Saisonbeginn, erst einmal der Skandal: Hat Ohtani die Wettschulden seines Jugendfreundes und damaligen Übersetzers Ippei Mizuhara in Höhe von 16 Millionen Dollar bezahlt? Verkehrt er womöglich mit sinistren Gestalten aus illegalen Wettwelten? Für zwei Dinge war Ohtani schon davor bekannt: dass er besessen ist davon, der beste Baseballspieler der Geschichte zu sein. Und: Privates ist privat – von seiner Hochzeit erfuhren selbst Teamkollegen über soziale Medien. Erst Wochen später kam raus, dass seine Ehefrau (eine „ganz normale Japanerin“, wie er sagte) die einstige Basketballspielerin Mamiko Tanaka ist.
Hatte er noch andere, viel dunklere Geheimnisse?
Eine große Leerstelle: Ohtani hat noch keine Playoff-Partie in der MLB absolviert
Nein, hatte er nicht. Er war Opfer in dieser Sache, im Juni wurde er zweifelsfrei für komplett unschuldig und unwissend erklärt. Die Frage dennoch: Würde Ohtani nach dieser Ablenkung sportlich wieder liefern können – mit neuem Team und diesem Megavertrag, der wie eine Gewichtsweste auf einem lasten kann?
Und wie! Die Dodgers haben derzeit die beste Bilanz der MLB (78 Siege bei 53 Niederlagen), Ohtani gehört in sämtlichen bedeutsamen Offensivkategorien zu den besten fünf Akteuren. Kann er womöglich 50-50 schaffen in dieser Saison, 50 Homeruns und 50 Stolen Bases? Zumal die Hauptrunde noch mehr als einen Monat und 31 Dodgers-Partien andauert? „Bei diesem Typen ist doch alles möglich“, sagt Dodgers-Trainer Dave Roberts. „Schauen Sie: 40. Homerun und 40. Stolen Base im selben Spiel, wir brauchen einen Run – und er haut das Ding auf die Tribüne. Das kann man sich nicht ausdenken.“
Ohtani sieht das, siehe mangelndes Sprücheklopfertalent, ein klein wenig anders: „Ja, es gehört zu den unvergesslichen Momenten. Ich hoffe aber, dass ich noch mehr leisten und noch mehr unvergessliche Momente liefern kann“, sagte er. Er weiß, dass sie in Los Angeles solche Momente zwar leidenschaftlich feiern – aber jeden vergessen, der dieser Glitzermetropole keine Glitzertrophäe beschert. Ohtani hat nach dem Skandal um seinen alten Übersetzer nun einen neuen, doch den brauchte er gar nicht, als ihn ein Reporter nach seinem nächsten großen Ziel fragte. Das seien keine persönlichen Bestmarken, sagte Ohtani in sehr gutem Englisch, sondern die „World Series“, die Finalserie der MLB. Die hat er bei allem Talent noch nicht erreicht, ach was: Er hat noch nicht einmal eine einzige MLB-Playoff-Partie bestritten.
Dabei soll Ohtani sein volles Potenzial er erst in der kommenden Saison präsentieren, wenn er wieder als Werfer tätig sein wird. Einen Tag nach Erreichen des 40/40-Meilensteins wurde er bei Pitcher-Aufwärmübungen gesichtet, in einem Trikot von Teamkollege Freddie Freeman. Wie immer bei Ohtani: nur keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen – so gut das nun mal geht, wenn alle Scheinwerfer auf einen gerichtet sind.