Präsident Selenskij: „Kiew hat einen der schrecklichsten Angriffe erlebt“ – Politik | ABC-Z

Fast zehn Stunden heulten die Sirenen in der Nacht. Bei Tagesanbruch verdunkelten dann schwarze Rauchsäulen die über Kiew aufgehende Sonne. Mit mehr als 440 Drohnen und 32 Raketen habe Russland die Ukraine und vor allem die Hauptstadt beschossen, berichtete der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij am Dienstagmorgen.
Selbst mit schweren Maschinengewehren versuchten die Landesverteidiger die Drohnen von Himmel zu holen. Nach Angaben der ukrainischen Luftwaffe wurden 402 davon abgefangen, zudem wurden 26 Raketen zerstört. Das sind viele und doch zu wenige, um große Zerstörungen zu verhindern. Vielerorts kam es zu Explosionen, brachen Brände aus. Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko berichtete, in einem Hochhaus der Stadt seien 40 Wohnungen zerstört worden. Dort, wo das Haus stand, klafft jetzt eine gewaltige Lücke zwischen zwei Appartmentsblocks.
Ein verifiziertes Video zeigt, wie eine Drohne in ein anderes vielstöckiges Wohnhaus einschlägt. „Die Suche nach Menschen unter Trümmern geht weiter“, erklärte Verwaltungschef Tymur Tkatschenko. 15 Toten und über 100 Verletzten gab es landesweit durch den Angriff, auch weitere größere Städte wurden beschossen, unter anderem Odessa.
Präsident Selenskij hofft auf weitere Sanktionen gegen Russland
„Kiew hat einen der schrecklichsten Angriffe erlebt“, erklärte Präsident Selenskij. „Wir stehen mit allen Partnern auf allen möglichen Ebenen in Kontakt, um eine angemessene Reaktion zu gewährleisten. Es sind die Terroristen, die den Schmerz spüren müssen, nicht unschuldige, friedliche Menschen.“ Die ganze Welt, die USA und Europa müssten endlich als zivilisierte Gesellschaften auf Terroristen reagieren, forderte Selenskij. Kremlchef Wladimir Putin gehe so vor, „weil er es sich leisten kann, den Krieg fortzusetzen“.
Selenskij wollte eigentlich heute beim G-7-Gipfel in Kanada mit US-Präsident Donald Trump über Sanktionen gegen Moskau und Waffenkäufe sprechen, doch Trump verließ das Treffen der führenden westlichen Industriestaaten vorher. Hoffnung machte Selenskij der britische Premierminister. Keir Starmer kündigte weitere Sanktionen seines Landes gegen Russland an: „Wir arbeiten an einem weiteren Sanktionspaket – und ich möchte mit allen unseren G-7-Partnern zusammenarbeiten, um Russlands Energieeinnahmen zu drücken und die Mittel zu reduzieren, die es in seinen illegalen Krieg stecken kann.“
Aktuell verfügt Russland noch über die Mittel, die Ukraine unter großen militärischen Druck zu setzen – und das nicht nur mit Angriffen aus der Luft. Im Mai ist es den russischen Streitkräften gelungen, so viel ukrainisches Gebiet zu erobern wie seit Kriegsbeginn nicht mehr. Bis zu 15 Kilometer am Tag konnten die Invasoren vorrücken. Vor allem im Norden der Front, in der ukrainischen Region Sumy und ganz im Osten, in Donezk, machten sie Fortschritte.
Die Verteidiger haben den russischen Vormarsch auf Sumy erst einmal gestoppt
In der Umgebung der Großstadt Sumy allerdings ist es den Landesverteidigern mittlerweile gelungen, den russischen Vormarsch zumindest für den Moment fast vollständig zu stoppen. Nach der Rückeroberung der russischen Region Kursk hatte Moskau dort nach ukrainischen Angaben etwa 50 000 Soldaten eingesetzt, um über die Grenze auf ukrainisches Gebiet vorzudringen. Das russische Ziel ist es, so nahe an die Stadt Sumy heranzurücken, dass diese auf ihrer gesamten Fläche mit Artillerie beschossen werden kann.
Die ukrainische Armee konnte den Feind jedoch nach etwa sieben Kilometern stoppen. Für Kiew ist das ein Erfolg. Ob er von Dauer ist, werden die kommenden Wochen zeigen. Vieles hängt davon ab, ob Russland Verstärkung schickt, oder sich auf den Osten konzentriert.
Dort, in der Region Donezk, rückt die russische Armee immer näher an die Grenzen des zentralukrainischen Bezirks Dnipropetrowsk heran. Die Taktik bei den Angriffen ist dabei meist ähnlich. Dörfer und Ortschaften werden mit schweren Gleitbomben, Artillerie und Drohnen beschossen, bis kaum mehr eine ukrainische Stellung intakt ist. Danach fallen kleine Trupps, oft auf Motorrädern oder Buggys und nur aus einer Handvoll Soldaten bestehend, in die Ortschaften ein.
An einigen Stellen drangen russische Truppen bereits zumindest kurzzeitig nach Dnipropetrowsk vor. Ob die russische Armee zeitnah größere Vorstöße in das zentralukrainische Gebiet plant, ist unklar.
Ein Hauptkriegsziel Moskaus ist es, die ukrainische Region Donezk komplett zu besetzten. Davon ist man allerdings noch weit entfernt. Mit Pokrowks und vor allem Kramatorsk und Slowjansk liegen in der Region gut befestigte ukrainische Großstädte. Bislang bleibt Russland auch hier nur der Terror aus der Luft. Seit Wochen nehmen die russischen Angriffe mit Drohnen und Marschflugkörpern an Intensität zu. Die Angriffe auf Kiew sind ein schrecklicher Höhepunkt. Mit großer und trauriger Wahrscheinlichkeit aber nur ein vorläufiger.