Bangen um Ausgang der US-Wahl: Kiew hofft auf Trumps Niederlage – und Harris’ Unterstützung | ABC-Z
Regierungsvertreter in Kiew verlieren darüber offiziell kein Wort, aber insgeheim hoffen die Ukrainer, dass Kamala Harris ins Weiße Haus einzieht. Doch auch hinter einer möglichen Präsidentschaft der Demokratin stehen viele Fragezeichen.
Seit vielen Monaten ist sie bereits ein Thema für Küchengespräche nicht nur in Kiew, sondern auch in der ukrainischen Provinz: Die US-Präsidentschaftswahl am 5. November. Während die militärische Lage für die ukrainische Armee im Abwehrkrieg gegen Russland nicht zuletzt wegen der lange ausgebliebenen US-Hilfe schwierig bleibt, hängt die Zukunft des Landes stark davon ab, ob Kamala Harris oder Donald Trump den amtierenden Präsidenten Joe Biden im Weißen Haus ersetzen wird. Eine große Bedeutung für die Ukraine haben jedoch auch die Wahlen der beiden Kongress-Kammern, da die ursprüngliche Verzögerung der US-Hilfen durch die Blockade der Republikaner im Repräsentantenhaus entstanden ist.
Dass die US-Wahl für Kiew und für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj de facto ein großes Minenfeld ist, zeigte sich während des letzten Besuchs Selenskyjs in den USA Ende September, als es ihm erst in der letzten Sekunde gelungen ist, neben den Treffen mit Biden und Harris auch ein persönliches Gespräch mit Trump zu organisieren. Große Teile der Republikaner zeigten sich empört, dass sich Selenskyj im wichtigen Swing State Pennsylvania in einer Munitionsfabrik, die viel für die Ukraine produziert, an der Seite des demokratischen Gouverneurs zeigte. Zwar machte das ukrainische Staatsoberhaupt vor einigen Monaten einen ähnlichen Besuch in Utah, wo der Gouverneur ein Republikaner ist. Trotzdem forderte Repräsentantenhaus-Speaker Mike Johnson Selenskyj auf, Oksana Markarowa, die ukrainische Botschafterin in Washington, zu entlassen.
Dass die ukrainische Staatsführung lieber Harris als Trump als Wahlsiegerin sehen würde, ist zwar einerseits ein offenes Geheimnis. Es geht unter anderem darum, dass Trump als US-Präsident vermutlich zumindest ein Gesprächsversuch mit dem Kreml unternehmen wird – mit ungewissem Ausgang. Trumps Beziehungen zur Ukraine waren schon immer kompliziert.
Trumps engstes Umfeld könnte ihn gegen Ukraine einstimmen
Auch die Verbindungen zwischen der Familie Biden und der Ukraine sind nicht einfach. Aus der Affäre um Joe Bidens Sohn Hunter, der im Aufsichtsrat eines ukrainischen Gasunternehmens saß, versuchte sich Selenskyj komplett herauszuhalten. Noch lange vor Selenskyjs Wahlsieg 2019 und seinem Politikeinstieg haben sich einige hochrangige ukrainische Politiker und Beamte während des Wahlkampfes auf der Seite von Hillary Clinton gezeigt. Trump hatte – anders als jetzt mit Selenskyj – ein Treffen mit dem damaligen Präsidenten Petro Poroschenko verweigert.
Vor allem aber gibt es Vermutungen, Trumps engste Umgebung den Ex-Präsidenten kontinuierlich gegen die Ukraine einstimmen könnte – sei es sein Sohn oder der Vizepräsidentschaftskandidat James David Vance, da beide mit russlandfreundlichen Aussagen aufgefallen sind. Trotzdem bemüht man sich in Kiew so sehr um die Neutralität, dass Selenskyj selbst während eines Hintergrundgesprächs mit ukrainischen Journalisten vor kurzem kein einziges Wort über seine Präferenzen verlieren wollte – und bat ausdrücklich um Verständnis. Andrij Jermak, Selenskyjs mächtiger Stabschef, der wieder in den USA ist und etwa ein enges Verhältnis zu Jake Sullivan, dem Sicherheitsberater Bidens, pflegt, betonte, die Ukraine sei sich sicher, dass keiner der Kandidaten den Sieg Wladimir Putins zulassen werde. Auch habe er keine Zweifel daran, dass die militärische Hilfe an Kiew fortgesetzt wird.
“Die Wahl zwischen der unzureichenden und unfolgerichtigen Unterstützung – und der Ungewissheit” – so beschreibt der ukrainische Ex-Außenminister Pawlo Klimkin das Hauptdilemma bei einem Wahlsieg von Harris oder Trump, welches sein Land mit Blick auf die US-Wahl hat. Denn dass Donald Trump der diplomatischen Kapitulation des Westens zustimmen wird, die faktisch von Putin gefordert wird, ist bei allen Besonderheiten seiner Person kaum vorzustellen. Zudem fiel der Verkauf von ersten tödlichen Waffen an die Ukraine genau auf seine Amtszeit.
Zögerlichkeit der USA unter Biden bezüglich Waffenlieferungen
Wer auch immer gewinnt: In jedem Fall muss Kiew damit rechnen, dass die US-Militärhilfe als eine Art Kredit und nicht wie bisher gratis geliefert wird – oder dass die US-Finanzhilfe komplett gestrichen werden könnte.
“Es ist sehr wichtig, mit Blick auf Trump nicht zu sehr in Panik zu geraten und im Voraus schmerzhafte Kompromisse vorzuschlagen”, schreibt der Analyst Mykola Beleskow vom Nationalen Institut für strategische Studien, welches auch die ukrainische Regierung berät. “Mit ihm wird es sicherlich nicht leicht.” Voreilige, zu negative Schlüsse zu ziehen, wäre jedoch auch nicht richtig, so Beleskow.
Die Risiken mit Blick auf Kamala Harris sind anderer Natur. Die Strategie der bisherigen Biden-Administration richtete sich vor allem darauf, keine ukrainische Niederlage erlauben zu dürfen und dabei unbedingt einen direkten Konflikt mit Russland zu vermeiden. Aus US-Sicht ist dies verständlich. Einige verpasste Chancen, etwa 2022, als man immer sehr lange brauchte, um die Lieferung eines neuen Waffentyps an Kiew zu erlauben, haben aber zu einem langen Zermürbungskrieg zwischen Russland und der Ukraine geführt.
Zwar ist eher nicht zu erwarten, dass Harris die Strategie von Biden 1:1 übernehmen wird. Aber es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass sie einen völlig anderen Gang als ihr heutiger Chef fährt. Zumal die möglichen Nominierungen von einigen Leuten aus engster Umgebung von Barack Obama, dessen Management in Zeiten der russischen Krim-Annexion rückblickend eher missglückt war, Kiew Sorgen bereitet. Letztlich gilt Kamala Harris nicht als große Außenpolitik-Expertin, während die Ukraine für Joe Biden eine persönliche Angelegenheit war: Schon als Vizepräsident besuchte er mehrfach Kiew – und sorgte mit seiner Kiew-Reise im Februar 2023 für eine große Überraschung. So oder so: Es gibt vermutlich kaum ein Land, das die US-Wahl am 5. November mit größerer Spannung beobachtet als die Ukraine. Denn davon hängt das Schicksal des Landes direkt ab.