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Back for Good von Stephan Rehm Rozanes und Fabian Soethof | ABC-Z

Die jüngst angekündigte Konzerttournee der wiedervereinigten Band Oasis ließ die Ticketserver zusammenbrechen: 70 Millionen Menschen wollten die Britpop-Stars aus den Neunzigerjahren sehen, doch Karten gab es „nur“ für anderthalb Millionen. Man könnte in diesen Zahlen eine zielgruppenbeschränkte Nostalgie der heute Vierzig- bis Sechzigjährigen sehen. Allein, die Sehnsucht nach der Neunzigerjugend scheint selbst jene Altersgruppen zu ereilen, die damals noch gar nicht geboren waren. Sie tragen die breiten Hosen ihrer Eltern auf oder bestellen sie gebraucht. In den Mom- oder Dad-Jeans hören sie jenen schnellen und überzuckerten Techno, der damals auf der Love Parade in Berlin oder der Street Parade in Zürich lief. Das sind längst keine Zufälle mehr.

Seit rund 15 Jahren gibt es im Popdiskurs ein reges Nachdenken über Retro-Phänomene, angefangen mit dem deutschen Poptheoretiker Diedrich Diederichsen, der dem Pop Ende der Nullerjahre nur halb humoristisch jeden relevanten Gegenwartsbezug absprach und ihn mit „Dixieland, Makrame oder Wollpulloverstricken“ verglich. Das Standardwerk zum Retro-Thema legte der britische Kritiker Simon Reynolds 2011 mit „Retromania“ vor, eine fundierte Klage über den verschwundenen Fortschrittsglauben im Pop. Sein 2017 verstorbener Kollege Mark Fisher fand in der Nostalgie nach einer optimistischen Vergangenheit immerhin revolutionäres Potential.

Deutscher Hip-Hop, Eurodance, Hamburger Schule

Was mittlerweile das Gespräch über Retro-Pop bestimmt, sind aber weniger Analysen als Erinnerungen von Leuten, die damals mehr oder weniger dabei waren. Das Buch der beiden Musikjournalisten Stephan Rehm Rozanes und Fabian Soethof ist auf der Seite dieser Erinnerungsauffrischung anzusiedeln. „Back for Good – Warum uns die Musik der 90er nicht loslässt“ sammelt in 14 Kapiteln die dominanten Stile, beschreibt ihr Kommen und Gehen und nennt stets die jeweilige Position in den Hitparaden. Der Ton wirkt betont locker, als würden zwei Connaisseure beim Bier über ihre Plattensammlung reden. Am Ende der Kapitel führen die Autoren jeweils ein Interview mit einer prägenden Figur aus Britpop, Techno, Hip-Hop bis zur Hamburger Schule, sie sprechen mit Noel Gallagher von Oasis, DJ Bobo, DJ Tomekk und Bernadette La Hengst. Manchmal reicht auch ein befreundeter Experte.

Stephan Rehm Rozanes und Fabian Soethof: „Back for Good“. Warum uns die Musik der 90er nicht loslässt.Reclam Verlag

Im Vorwort schreiben die Autoren, wie sie ihren enzyklopädischen Zugriff verstehen: „Fakt ist: Wer das popkulturelle Hier und Jetzt verstehen will, sollte die 90er in der Tiefe kennen.“ Das ist eine selbstbewusste Ansage. Weil sie nahelegt, dass „Back for Good“ erstens diese Tiefenschätze birgt und dies, zweitens, den im deutschen Sachbuchmarkt mehrfach erfolgten Tauchgängen in die Popkultur der Neunzigerjahre etwa von ihren Journalistenkollegen Jens Balzer oder Joachim Hentschel noch etwas hinzufügt. Auch Rehm Rozanes und Soethof erwähnen Filme, ein paar wenige politische Ereignisse oder die Mode jener Tage, aber im Gegensatz zu anderen Dekadenbüchern bleiben sie bei der Musik und ihren Protagonisten selbst.

„Ich hatte drei Flops, und im Club liefen die Leute weg“

Wer noch einmal in seinen Erinnerungen schmökern will, findet in diesem Buch eine Fülle von Information. Und für Jüngere ist es vielleicht ein analoges Nachschlagewerk. Überraschende Deutungen finden sich gerade in den global erfolgreichen Stilen wie Grunge, Britpop oder Classic Rock aber kaum. Es fällt auf, dass „Back for Good“ mehr Schattierungen zeigt, wenn der Gegenstand näher an den Erlebniswelten der Autoren liegt. Deutscher Hip-Hop, Eurodance, Hamburger Schule: Da kommt das Buch in Schwung.

So mag man als Zeitzeuge vorschnell belächeln, dass ausgerechnet der im Familiensektor erfolgreiche DJ Bobo zum abschließenden Interview des Techno-Kapitels gebeten wird. Aber was der Schweizer Produzent im Gespräch erzählt, wirkt so erhellend wie konkret. Bobo wurde ohne große Plattenfirma zum Star, es gab kein Internet oder soziale Medien für die Marktforschung, sondern ein einziges Testfeld: die Tanzfläche. „Ich hatte drei Flops, und im Club liefen die Leute weg“, erzählt der gelernte Bäcker und Eurodance-Star, der später mit Michael Jackson in Osteuropa tourte. Auch Letzteres sieht Bobo nüchtern. „Die Veranstalter wussten: Wenn der große Musikgott der vergangenen Dekade und der aktuelle Star des Moments zusammenkommen, kann eins plus eins drei ergeben.“ Es sei darum gegangen, Michael Jackson jünger zu machen. Ältere oder alte Stars: Das wäre heute kein Problem mehr, da jetzt die großen Arenen regelmäßig von Ü-60-Bands gefüllt werden.

Große Budgets in der Werbebranche

Der polnisch-deutsche DJ Tomekk erzählt im Hip-Hop-Kapitel anschaulich über die Segregation von Schwarz und Weiß, die er erlebte, als er mit dem Pionier Kurtis Blow durch die USA tourte und dabei Kontakte ins Big Business knüpfen konnte. Zur selben Zeit diskutierte die Szene in Deutschland mit Vorliebe darüber, wer gerade zu kommerziell sei und Ausverkauf betreibe. Da zeigt sich nebst der beginnenden Digitalisierung der größte Unterschied von der Gegenwart zu den Neunzigerjahren: Junge deutsche oder in Deutschland lebende Popmusiker dachten nicht immer zuerst an wirtschaftlichen Erfolg.

Im Rückblick werden die Subkulturen des deutschen Hip-Hops oder des Indie-Rocks aus Hamburg gefeiert. Dabei geht mitunter vergessen, dass es sich um vergleichsweise kleine Szenen mit beschränkter Reichweite handelte. Im Interview mit Bernadette La Hengst von der Band Die Braut haut ins Auge erfährt man aber, dass es gute Gründe gab, sich zunächst um selbstverwaltete Konzert­orte, Plattenfirmen und Managements zu kümmern.

Allerdings wäre diese Bohème nicht möglich gewesen ohne günstige wirtschaftliche Bedingungen. Bezahlbare Wohnungen in Ballungszentren, große Budgets in der Werbebranche für Nebenjobs in Gestaltung, Kostümbild, Musik oder Kommunikation, ein Netzwerk an nicht nur prekär arbeitenden Gleichgesinnten: Das half alles beim Dagegensein und bei der Produktion künstlerischen Eigensinns. Nimmt der Druck auf Wohnen und auf die Erwerbsbiographie zu und nehmen die Auftrittsmöglichkeiten ab, ist die Gleichförmigkeit nicht weit oder eben der stilistische Rückgriff auf vergangene Jahrzehnte.

Stephan Rehm Rozanes und Fabian Soethof: „Back for Good“. Warum uns die Musik der 90er nicht loslässt. Reclam Verlag, Ditzingen 2024., 351 S., Abb., geb., 28,– €.

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