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Autor über das Kriegsende vor 80 Jahren: “Wenn man in Berlin lebt, ist der Zweite Weltkrieg auf Schritt und Tritt präsent” | ABC-Z

Interview | Autor über das Kriegsende vor 80 Jahren

“Wenn man in Berlin lebt, ist der Zweite Weltkrieg auf Schritt und Tritt präsent”


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Video: rbb Kultur – Das Magazin | 03.05.2025 | 18:30 Uhr | Bild: dpa/SZ Photo

An was sollen wir uns erinnern, wenn wir an das Kriegsende denken? An die “Großen Drei”, Truman, Stalin und Churchill, wie sie in Potsdam die neue Weltordnung festlegen? Oder an die Steglitzer Hausfrau Else Tietze, die um das Leben ihres Sohnes bangt? Der Berliner Historiker Oliver Hilmes will beides.

Am 8. Mai 2025 jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges, die Befreiung Europas vom Nationalsozialismus, zum 80. Mal. Diesen Jahrestag nahm der Berliner Autor Oliver Hilmes zum Anlass für sein neues Buch, das eine Art Geschichtspanorama ist, in dem er aus vielen verschiedenen Perspektiven die Zeit von Mai bis September 1945 erzählt.

rbb: Herr Hilmes, Sie haben bereits Bücher über die Jahre 1936 und 1943 geschrieben, und nun über 1945. Sie setzen da an, wo der Weltkrieg schon beendet ist. Was ist daran interessant?

Oliver Hilmes: Die Geschichte hin zur Kapitulation am 8. Mai schien mir auserzählt zu sein. Ich wollte ein Buch schreiben, das mit dem Tag der Kapitulation beginnt – mit dem Tag, an dem militärisch alles vorbei war. Das Buch führt durch das Frühjahr und den Sommer zum zweiten September – dem eigentlichen Tag des Kriegsendes. Durch unsere eurozentrische Perspektive denken wir immer an den 8. Mai, aber der Zweite Weltkrieg ging noch im Pazifik weiter. Japan hat ja nicht kapituliert und war mit Amerika nach wie vor im Krieg. Dieser Krieg endete erst am 2. September. Dadurch hat sich für mich automatisch der Erzählhorizont ergeben.

Was fasziniert Sie an der Zeit kurz nach der Kapitulation?

Es ist eine bemerkenswerte Zeit gewesen: Das Dritte Reich hat aufgehört zu existieren, aber das Neue war noch nicht auf der Spur. Es ist unglaublich spannend zu beobachten, wie die Menschen versuchten, ihr Leben vom Kopf auf die Füße zu stellen, wie so etwas wie Alltag wieder einkehrt: wie die ersten Kinos wieder öffnen, die ersten Straßenbahnen wieder fahren, die Berliner Philharmoniker ihr erstes Konzert wieder spielen, Theater und Opern wieder öffnen. Es ist spannend zu sehen, wie nach diesen zwölf entsetzlichen Jahren ein Neuanfang gelingen kann.

Zur Person

Archivbild: Oliver Hilmes auf der Frankfurter Buchmesse. (Quelle: dpa/Burgi)

dpa/Burgi

Oliver Hilmes (* 1971 in Viersen) ist ein deutscher Historiker, Publizist und Kulturmanager.

Im März erschien sein neuesten Buch: “Ein Ende und ein Anfang: Wie der Sommer 45 die Welt veränderte”.

Sie schreiben, dass sich im Sommer 1945 die verschiedensten Menschen in Berlin treffen.

Klar, ausquartierte Menschen kommen zurück, es kommen sehr viele Flüchtlinge, die Berlin als Durchgangspunkt nutzen, es kommen Deportierte aus den Gefängnissen und Konzentrationslagern zurück. Und es gibt eine große Anzahl an Soldaten. So wird die Stadt zu einem ‘Melting Pot’.

Und Sie räumen im Buch ganz nebenbei mit dem Mythos der Trümmerfrau auf. Es war gar nicht so, dass Millionen unbescholtener Frauen die Trümmer weggeräumt haben?

Die sogenannten Trümmerfrauen waren kein Massenphänomen. In Berlin waren lediglich fünf Prozent der Frauen im arbeitsfähigen Alter in der Schuttbeseitigung tätig, in westdeutschen Großstädten waren es noch weniger. Zu glauben, dass die Trümmerfrauen ganze Städte mit Schaufeln und Eimern enttrümmert und gereinigt hätten, das ist ein Mythos. Die meiste Arbeit beim Enttrümmern wurde durch schwere Maschinen wie Förderbänder, Lastkraftwagen und dergleichen erledigt. Aber natürlich gab es Frauen, die geholfen und damit einen wichtigen Beitrag geleistet haben. Diese Hilfsbauarbeiterinnen, wie sie offiziell hießen, haben sich häufig freiwillig gemeldet, auch weil sie dadurch eine bessere Lebensmittelkarte bekommen hatten. Viele wurden aber auch zum Dienst verpflichtet, weil sie Funktionärinnen im Regime waren, weil sie bestimmte Ämter in der NSDAP oder in ihren Unterorganisationen innehatten und dafür also eine Art Frondienst leisten sollten.

Sie haben das Tagebuch von Else Tietze ausfindig gemacht. Was erzählt uns die Geschichte dieser Frau über den Sommer 1945?

Ich wollte das Buch nicht nur aus der Perspektive der Herrschenden schreiben – also Stalin, Truman, Churchill. Ich wollte auch die Perspektive der Menschen, über deren Kopf hinweg entschieden und regiert wurde, miteinbeziehen. Und da bin ich in einem Archiv auf ein Tagebuch von einer gewissen Else Tietze gestoßen. Sie war eine Witwe um die 70, lebte in Steglitz und hatte das Dritte Reich überlebt. Aber sie war sich nicht sicher, was aus ihren drei Kindern geworden ist. Das lag ihr sehr auf der Seele. Im Frühjahr 1945 begann Frau Tietze zum allerersten Mal in ihrem Leben, ein Tagebuch zu führen. Sie griff zu Papier und Stift und schrieb jeden Tag auf, was sie beobachtet hat, was sie mit ansehen musste. Dieses Tagebuch wollte sie ihren Kindern geben – falls sie überlebt haben.

Sie schreiben, dass einer ihrer Söhne SS-Mann war und untergetaucht ist. Eine Tochter lebt in den USA. Wie blickt Else Tietze auf das untergegangene Dritte Reich und auf Hitler selbst?

Interessant ist, dass sich Frau Tietze selbst nicht als Nationalsozialistin bezeichnet und das mag man ihr auch glauben, in ihren Aufzeichnungen erkennt man keinerlei Fanatismus. Sie beschreibt zum Beispiel einen Moment, in dem sie durch die völlig kriegszerstörte Stadt geht und sinngemäß schreibt ‘Das hätte sich Hitler schon mal anschauen können, was er uns hier hinterlassen hat’. Von Woche zu Woche merkt man in ihren Aufzeichnungen immer mehr Distanz. Das Tagebuch ist aber auch gefüllt mit vielen alltäglichen Dingen wie den Nöten, an Lebensmittelmarken zu kommen. Das Spannende ist, dass da keine Literatin, Schriftstellerin oder Journalistin schreibt. Da schreibt eine Frau in einfachen Worten – und das ist umso erschütternder.

Sie beschreiben, wie Frau Tietze von ihrem Wohnort in Steglitz nach Berlin Mitte läuft. Das muss ein Gang durch Welten gewesen sein, oder?

Das war ein Gang durch Welten, denn die Stadt war ja in großen Teilen zerstört – zumindest die ganzen großen Straßen. Man musste auf der Hut sein, dass man sich in dieser Trümmerwüste nicht verläuft. Sie hat sich ausgestattet mit einem Butterbrot und einer Thermoskanne und ist von ihrem Haus in Steglitz, das übrigens nicht zerstört wurde, zu Fuß nach Berlin Mitte zur Wilhelmstraße gelaufen, um ein befreundetes Ehepaar zu suchen, von denen sie erst vor Ort erfährt, dass sie überlebt haben.

Sehr anrührend ist auch die Geschichte von Leo Borchard, der unter tragischen Umständen umkommt.

Mein Buch heißt ja ‘Ein Ende und ein Anfang’. Ich versuche, in vielen einzelnen Biografien darzustellen, wie sich das Ende des Dritten Reiches und der darauffolgende Neuanfang angefühlt haben. Und mit Leo Borchard gibt es eine tieftraurige, dramatische Facette. Er war ein sehr angesehener Dirigent und ein Fachmann für die zeitgenössische Musik. Die Berliner Philharmoniker haben ihn kurz nach der Kapitulation zum künstlerischen Leiter ernannt. Er stand also am Beginn einer vermutlich großen, glanzvollen Karriere. Und dann wird er in einer Verkehrskontrolle versehentlich von einem amerikanischen Soldaten erschossen. Gerade in den Abendstunden gab es viele militärische Provokationen und offensichtlich fuhr Borchert in einem Wagen neben einem britischen Militärangehörigen in der Dunkelheit an einem Checkpoint vorbei. Die amerikanischen Soldaten eröffneten das Feuer. Da sieht man, wie nah das Ende und der Neuanfang beieinander liegen können. Es gab zahlreiche solcher Fälle wie Borchards.

Warum sind solche Erzählungen auch 80 Jahre nach dem Krieg noch wichtig?

Es gibt eine interessante historische Parallele, denn in diesem Sommer 2025 feiern wir nicht nur 80 Jahre Kriegsende, sondern auch 80 Jahre Potsdamer Konferenz. In der Konferenz sollte eine Nachkriegsordnung entwickelt werden. Als Truman nach Potsdam kam, hat er noch gehofft, dass er Stalin in eine Weltordnung einbinden kann. Doch während der Wochen in Potsdam ist im klargeworden, dass Stalin hinter einem eisernen Vorhang versucht, sich in Osteuropa alle möglichen Länder einzuverleiben. Truman hat in den darauffolgenden zwei Jahren die amerikanische Außenpolitik neu ausgerichtet. In der sogenannten Truman-Doktrin vom März 1947 erklärte er, dass sich alle Länder, die in Frieden und Freiheit leben wollen und von den Russen bedroht werden, auf die Vereinigten Staaten verlassen können. Diese Truman-Doktrin wird von Trump gerade endgültig abserviert.

Gehen Sie jetzt mit einem anderen Blick durch Berlin?

Wenn man in Berlin lebt, ist der Zweite Weltkrieg auf Schritt und Tritt präsent. Berlin ist nach wie vor eine kriegsverwundete Stadt. Bestimmte Gebäude und Straßenführungen sind als Folge der Zerstörung des Zweiten Weltkriegs erst entstanden. Als ich Mitte der 90er Jahre als Student nach Berlin kam, war auf der Oranienburger Straße jedes zweite Haus mit Einschusslöchern übersät, in die sie die Faust legen konnten und man wirklich das Gefühl hatte, dass es sich gerade eben erst ereignet hat.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview mit Oliver Hilmes führte Tim Evers. Redaktionelle Mitarbeit: Alexandra Steinberg.

Sendung: rbbKultur – Das Magazin, 03.05.2025, 18:30 Uhr


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