Wirtschaft

Autoproduktion: „Sprung in die Informationsökonomie verpasst“ – Das sind die wahren Ursachen der VW-Krise | ABC-Z

Die Tarifeinigung bei VW verschafft dem Konzern jährliche Einsparungen in Milliardenhöhe. Doch das ist nicht alles. Ganze Produktionslinien werden ins Ausland verschoben. Das wirft ein Schlaglich auf die Versäumnisse deutscher Autobauer insgesamt.

Die Tarifverhandlungen steuern auf ihre 50. Stunde zu, als sich Volkswagen-Chef Oliver Blume und seine wichtigsten Manager am Donnerstag in Berlin treffen. Es ist die jährliche Managementtagung des Autokonzerns, mit Rückblick auf das vergangene und Ausblick auf das nächste Jahr.

Nach außen halten sich die Beteiligten mit Jubelmeldungen zurück. Denn zugleich herrscht alles andere als Feierlaune bei den Gesprächen zwischen IG Metall und Vertretern der Volkswagen AG in einem Hotel im Gewerbegebiet Hannover Groß-Buchholz.

Die Verhandlungen enden am Freitag nach über 70 Stunden. Seit Jahrzehnten haben die Arbeitnehmer und das Unternehmen nicht mehr so hart miteinander gerungen. Und lange waren die Ergebnisse nicht so einschneidend: Bis zum Jahr 2030 streicht VW in Deutschland jeden vierten Arbeitsplatz, 35.000 Stellen insgesamt.

Die Werke bleiben alle erhalten, werden aber stark verkleinert. In Zwickau beispielsweise soll es nur noch eine Montagelinie geben, das Stammwerk Wolfsburg schrumpft von vier auf zwei Linien. Die Produktion der Modelle Golf und Golf Variant werde ab 2027 nach Puebla in Mexiko verlagert, teilte der Konzern mit.

Im Gegenzug, das heben die Arbeitnehmervertreter um Betriebsratschefin Daniela Cavallo hervor, wird es keine betriebsbedingten Kündigungen geben, mindestens bis Ende 2030. Die Beschäftigten verzichten auf eine Lohnerhöhung für zwei Jahre, bekommen weniger Boni ausbezahlt und müssen womöglich ihre Arbeitszeiten reduzieren. Bis zu 1,5 Milliarden Euro Arbeitskosten jährlich will VW dadurch sparen.

Die Börse hat VW fast abgeschrieben

Auch aus Sicht der IG Metall soll das die Antwort sein auf die Probleme, in denen VW steckt. Deutschlands größtes Industrieunternehmen hat es nicht geschafft, mit den Veränderungen in der Welt Schritt zu halten. So wie das ganze Land.

Die Börse hat VW fast abgeschrieben, binnen fünf Jahren hat sich der Aktienkurs halbiert. Aus Sicht von Aktionären sei die Lage „sehr ernst und unbefriedigend“, sagt Ingo Speich, Leiter Nachhaltigkeit und Corporate Governance bei der Fondsgesellschaft Deka Investment.

„Diese Entwicklung ist eine Folge von eklatanten Fehlentscheidungen“, kritisiert er vor der Tarifeinigung. Das Geschäft von Volkswagen sei viele Jahre lang eine Erfolgsgeschichte gewesen. „Doch damit ist es vorbei. Es wurden viel zu spät Reformen eingeleitet.“

Dazu kommt: Einige Reformen sind gescheitert. Vor allem der Versuch, Volkswagen ins Digitalzeitalter zu bringen. Schon Blumes Vorgänger Herbert Diess wusste, dass Software künftig eine wesentliche Rolle im Auto spielen würde. Er gründete dafür eine eigene Konzerntochter, Cariad, die zum „zweitgrößten Softwarekonzern nach SAP“ werden sollte. Der Betriebsrat zog mit und sorgte für eine stramme gewerkschaftliche Organisation. Der Plan scheiterte.

Nun schwört Blume seine Führungskräfte auf einen neuen Weg ein: Wolfsburg verliert an Bedeutung im globalen Volkswagen-Konzern, dessen 670.000 Mitarbeiter ohnehin mehrheitlich außerhalb Deutschlands arbeiten.

Die wichtigste Zukunftstechnologie kauft der Autoriese bei zwei Start-ups: Rivian in den USA und XPeng in China. Aus Sicht des Vorstandschefs ist das der schnellste Ausweg aus dem Software-Desaster. Die Entwickler in der Heimat büßen an Macht ein, 4000 Stellen werden dort bis 2030 abgebaut.

Die Konzernführung wollte zwei bis drei Werke in Deutschland schließen, um die Dimension des Unternehmens an die neue Realität anzupassen. Jetzt streicht sie in Summe Kapazitäten für die Produktion von rund 730.000 Autos pro Jahr. Nach Ansicht der Manager wird VW in Europa auf absehbare Zeit eine halbe Million Autos weniger verkaufen als 2019. Die schwache wirtschaftliche Entwicklung des Kontinents ist eine Ursache dafür, die Konkurrenz durch Chinesen eine andere.

Der Soziologe Andreas Boes sieht die Ursache der Krise darin, dass sich die Industrie nicht schnell genug verändert hat. VW und die anderen deutschen Autohersteller hätten den „Paradigmenwechsel in die Informationsökonomie“ nicht geschafft, sagt der Mitarbeiter des Instituts für sozialwissenschaftliche Forschung in München. „Deshalb verlieren sie zunehmend den Markt in China und unterliegen Wettbewerbern aus China, die sich auf das neue Paradigma der Wertschöpfung eingestellt haben.“

Schon vor Jahren hatte Boes davor gewarnt, dass neue Autohersteller wie Tesla ihre Produkte mit einem anderen „Mindset“ entwickelten: aus der Sicht des Nutzers, von der Software zur Hardware. Das kehrt die Abläufe etablierter Hersteller um und führt zu einer anderen Art von Produkten – wie sich bei den Elektroautos in China zeigt. Westliche Hersteller können in dem Markt kaum mithalten.

BMW, Mercedes-Benz und die Volkswagen-Marken trifft das hart, weil die Gewinne aus China jahrzehntelang eines der Fundamente des deutschen Wirtschaftsmodells waren. „Das zentrale Problem der deutschen Autohersteller ist, dass sie ihr Versagen bei der Neuorientierung nicht verstehen können, solange sie ihre Strategien im alten Paradigma entwickeln“, meint Boes.

Den Konzern plagen neben der Transformation handfeste Probleme. „Die Auslastung der Werke muss deutlich erhöht werden, um die Kosten in den Griff zu bekommen“, sagt Deka-Investment-Experte Speich. Volkswagen müsse es schaffen „attraktivere Produkte an den Markt zu bringen, die Stückzahlen zu erhöhen und damit eine höhere Auslastung zu erreichen.“

Höhere Chance auf günstigere Autos

VW-Chef Blume hatte die Modellpalette zu Beginn seiner Amtszeit vor zwei Jahren ins Zentrum seiner Arbeit gerückt. Allerdings dauert es, bis solche Veränderungen sichtbar werden. Die neuen Autos für die nächsten Jahre waren ein Punkt der Präsentationen in Berlin.

Die Chancen für neue Fahrzeuge wie den günstigen Kleinwagen ID1 sind durch die Tarifeinigung gestiegen. Die Entwicklung eines neuen Autos, der Aufbau der Produktionslinien kosten Hunderte Millionen Euro. Um sich das leisten zu können, soll das Ergebnis der Marke VW um 15 Milliarden Euro steigen. Darauf verständigten sich Management und Arbeitnehmer neben dem Haustarif. Vier Milliarden machen die Werke und die Arbeitskosten aus. Eine Basis für die Zukunft?

„VW muss innovativer, schneller und profitabler werden“, sagt Speich. Die Größe des Unternehmens sei derzeit ein Nachteil. „Sie muss wieder ein Vorteil werden. VW hat noch alle Chancen, wieder nach vorne zu kommen.“ So ähnlich könnte man mit etwas Optimismus auch über den Standort Deutschland als Ganzes sprechen.

Daniel Zwick ist Wirtschaftsredakteur und berichtet für WELT über alle Themen aus der Autoindustrie.

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