Berlin

Auswirkungen des „Sicherheitspakets“: Mehr Sicherheit – durch mehr Elend? | ABC-Z

BERLIN taz | Experten aus Politik und Zivilgesellschaft erwarten eine Zunahme von Obdachlosigkeit und Verelendung unter Flüchtlingen aufgrund des am Freitag beschlossenen „Sicherheitspakets“. „Wir befürchten, dass vorbeugende Leistungen verweigert werden. Das bedeutet ein hohes Risiko, dass Dublin-Flüchtlinge obdachlos gemacht werden und trotzdem in Berlin bleiben müssen, weil sie gar nicht zurückkönnen“, sagte Emily Barnickel vom Flüchtlingsrat am Montag der taz.

Die Sorge treibt auch Jian Omar um, den flüchtlingspolitischen Sprecher der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Er zweifelt stark, dass das Gesetzespaket in seiner aktuellen Form Berlin sicherer machen wird. Betroffene Flüchtlinge würden vermutlich in die Illegalität untertauchen und irgendwie versuchen, sich über Wasser zu halten, auch mit Schwarzarbeit. „Länder wie Bulgarien oder Ungarn, wo Flüchtlinge keinerlei Leistungen bekommen und keine Perspektive haben, sind keine Option“, sagt er.

Auch Sozialsenatorin Cancel Kiziltepe äußerte am Montag Bedenken. Mit der Möglichkeit, Leistungen auf null zu senken, würden „viele Menschen in die Illegalität getrieben. Der Sicherheit im Land werden wir damit wohl kaum dienen.“ Ihr Sprecher, Stefan Strauß, ergänzt: „Der Leistungsausschluss könnte daher auch schwerwiegende Konsequenzen für die Notfallsysteme der Obdach- und Wohnungslosenhilfe und anderer niedrigschwelliger Angebote zur Mindestversorgung haben.“

Elif Eralp, flüchtlingspolische Sprecherin der Linksfraktion, teilt die Kritik der Vorgenannten, und erklärt: „Ich erwarte vom Senat, dass alle Spielräume im Gesetz für Humanität genutzt werden, damit Menschen in Berlin nicht obdachlos und mittellos werden und sich die soziale Lage nicht noch weiter verschärft.“

Verfahren in anderen EU-Ländern

Bundesrat und Bundesrat haben vergangenen Freitag verschiedene als „Sicherheitspaket“ bezeichnete Gesetzesänderungen verabschiedet. Dazu gehört die Streichung aller Sozialleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz für Geflüchtete, für deren Verfahren ein anderes EU-Land zuständig ist. Diesen Punkt hatte etwa Pro Asyl bei der Expertenanhörung vor einigen Wochen als menschenrechts- und verfassungswidrig bezeichnet. Die Ampel-Koalition hatte daraufhin klargestellt, die Kürzung sollten ausschließlich Menschen betreffen, deren Ausreise „rechtlich und tatsächlich“ möglich sein soll. Dies soll das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) prüfen, das für Asylanträge zuständig ist.

Wie viele Flüchtlinge die Neuerung betreffen wird, ist unklar. Das Bamf erklärte auf taz-Anfrage, zum Stichtag 30. September 2024 seien in Berlin 7.806 Asylverfahren anhängig, davon seien 10,8 Prozent Dublin-Fälle; in Brandenburg seien zum Stichtag 4.947 Asylverfahren anhängig, davon seien 8,5 Prozent Dublin-Fälle. Meistens sind dann Griechenland, Italien, Bulgarien, Kroatien und Polen zuständig, wo Flüchtlinge zuerst in die EU einreisen.

Das Problem: Für Flüchtlinge gibt es sehr gute Gründe, nicht in diesen Ländern bleiben zu wollen und stattdessen nach Deutschland zu gehen. In Griechenland, Polen und Bulgarien etwa würden Asylbewerber in gefängnisähnlichen Lagern inhaftiert, erklärt Barnickel. „Wenn sie entlassen werden, und ihr Asylantrag anerkannt wird, bekommen sie keinerlei staatliche Leistungen oder Hilfen, können keine Arbeit finden“, sagt sie.

Zugleich, stellt Barnickel fest, würden die formal zuständigen EU-Länder Flüchtlinge oft gar nicht zurücknehmen. Griechenland etwa nehme nur Asylbewerber aus sieben Ländern zurück – Syrien als eines der Hauptherkunftsländer zählt demnach nicht dazu. Auch Italien weigere sich zumeist, „seine“ Asylbewerber zurückzunehmen.

Prophylaktisches Einstellen von Leistungen

Das wiederum wirft die Frage auf, ob wirklich so viele Flüchtlinge hierzulande von der Neuregelung betroffen sein werden. Schließlich soll nur denjenigen die Leistungen gestrichen werden, deren zuständiges EU-Land sie zurücknehmen will. Oder? „Ich befürchte, dass das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten prophylaktisch Leistungen einstellt“, sagt Barnickel vom Flüchtlingsrat. Denn schon jetzt kürze das LAF „reihenweise rechtswidrig Leistungen, wogegen mühsam und in Einzelfällen vorgegangen werden muss, auf Kosten der Betroffenen und der Staatskassen“. Die Gangart des Amts gegenüber Flüchtlingen werde seit einiger Zeit immer härter – die neue Regelung werde diese Entwicklung beflügeln, schätzt Barnickel.

Omar betont dagegen, dass die neue Regelung dem LAF mehr Arbeit und Überlastung der Mitarbeiter bringen wird. Anwälte von betroffenen Flüchtlingen würden sicherlich gegen den Ausschluss von Leistungen klagen, ein Vorgehen, das den LAF-Mitarbeitern schon jetzt immer wieder zusätzliche Arbeit mache. Die Sozialverwaltung befürchtet ebenfalls, auf die Leistungsbehörden kämen nun „erhebliche personelle und rechtliche Herausforderungen zu“.

Auch das Bamf sei schon jetzt völlig überlastet, ergänzt Barnickel. Das Amt verschicke derzeit Briefe an Asylbewerber, dass ihr Asylverfahren aufgrund von Überlastung länger als sechs Monate dauern werde. „Das ganze Asylsystem in Berlin funktioniert nicht, Behörden kooperieren nicht miteinander, überall herrscht Chaos. Die Neuregelung wird dies noch schlimmer machen“, ist Barnickel sicher. Das Bamf erklärte auf taz-Anfrage: „Die verwaltungstechnischen Details und die Auswirkungen der Gesetzesänderungen werden derzeit noch geprüft.“

Wenn die Kritiker recht haben: Welchen Sinn hat das Ganze dann? Omar: „Letztlich ist das Sicherheitspaket in dieser Form eher Symbolpolitik der Ampel, um der Bevölkerung zu signalisieren, man tue etwas nach dem schrecklichen Anschlag von Solinngen.“ Wirkliche Verbesserungen könne es aber nur durch eine echte Reform des Dublin-Systems geben, mit der die faktische Benachteiligung der EU-Länder im Süden und Südosten beendet und ein faires und solidarisches Aufnahmesystem für Flüchtlinge etabliert würde.

Senatorin Kiziltepe: „Zum geplanten Sicherheitspaket muss man sagen: Thema verfehlt. Im Kampf gegen islamistischen Terror kommen wir nicht voran, wenn wir Menschen, die oftmals selbst vor genau diesem Terror fliehen mussten, entrechten.“

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