Ausstellung im DHM Berlin zum Jahrhundert der Aufklärung | ABC-Z

Das Bild, das Friedrich Tischbein um 1790 von der hugenottischen Familie Reclam gemalt hat, zeigt zwölf Personen. Im Zentrum steht der vier Jahre zuvor als Bürgermeister von Magdeburg verstorbene Jean Frédéric Reclam zwischen seinen Geschwistern. Reclams Neffe Pierre Chrétien, mit Frau und Kindern am linken Bildteil dargestellt, war calvinistischer Prediger in Berlin. Jean François, ein weiterer Neffe, dessen Familie rechts zu sehen ist, arbeitete als Hofjuwelier für Friedrich den Großen. Sein Sohn Charles Henri wurde Buchhändler und eröffnete 1802 in Leipzig die Reclamsche Verlagsbuchhandlung. Charles Henris ältester Sohn Anton Philipp gründete den Reclam Verlag, der im neunzehnten Jahrhundert zu Weltgeltung aufstieg; sein zweitältester wurde Medizinprofessor und Hygieneforscher.
Tischbeins Familienporträt hängt neben dem Aufgang vom ersten ins zweite Obergeschoss des Berliner Pei-Baus und damit an der Nahtstelle zwischen den beiden Teilen der Ausstellung „Was ist Aufklärung?“ im Deutschen Historischen Museum. Auf den ersten Blick wirkt das Bild nur wie eine Fußnote zu den Themen der Ausstellung. Bei näherem Hinsehen freilich erkennt man, dass sie hier zentralperspektivisch gebündelt sind: Religionsfreiheit, Bürgertum und Fürstenhof, Presse- und Verlagswesen, Wissenschaft und Glaube. Dazu kommt der Blick des Malers, der ein Bildmuster, das lange der Selbstdarstellung des englischen Landadels und der holländischen Handelsaristokratie gedient hatte, auf die bürgerliche Welt des deutschen Rokoko überträgt.
Das Tischbeinsche Bild verweist auch auf eine andere Dimension der Aufklärung, die im DHM etwas zu beiläufig abgehandelt wird: ihren historischen Rahmen. Die von Liliane Weissberg kuratierte Ausstellung will „Fragen an das 18. Jahrhundert“ stellen. Was ist mit dem siebzehnten? Die Vorfahren der Familie Reclam flohen 1685 nach der Aufhebung des Toleranzedikts von Nantes durch Ludwig XIV. aus Französisch-Savoyen ins Kurfürstentum Brandenburg. Ihr christlicher Glaube war ein Ergebnis der Reformation. Die Tradition der Enzyklopädie, an welche die reclamsche Universal-Bibliothek anknüpfen sollte, reicht weit vor das achtzehnte Jahrhundert zurück.
In der Büstengalerie am Anfang der Ausstellung sind Rousseau, Voltaire, Mendelssohn, Locke und Newton vertreten (dessen wichtigste Schriften ebenfalls vor 1700 datieren), Pascal, Descartes und Pierre Bayle fehlen. Aber kann man die Aufklärung ohne das cartesianische Cogito und Pascals „Pensées“ erklären? Was ist mit dem Niederländer Grotius, der das moderne Völkerrecht begründete, und mit den Niederlanden selbst, deren erfolgreicher Aufstand gegen die Weltmacht Spanien einen Schutzraum für das europäische Denken schuf?

Die Ausstellung gibt auf solche Fragen eine pragmatische Antwort. Aufklärung ist ein weites Feld, und im Kant-Jahr hält man sich an den Philosophen aus Königsberg. Die Originalausgabe seines Essays von 1784, in dem er den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ verlangt, liegt in einer der ersten Vitrinen, daneben eine Replik von Newtons Reflektorteleskop und das aus Oxford entliehene silberne Mikroskop, das George Adams für Georg III. schmiedete, mit allegorischen Figuren im klassizistischen Stil. Der nächste Blickfang ist eine französische Prunkrobe mit Ballonmotiven, die 1783, im Jahr des Aufstiegs der ersten Mongolfière, aufgestickt wurden.
Sehen und Erkennen fielen in der Aufklärung zusammen, der Prozess, den sie anstießen, mündete einerseits im Traktat, andererseits im Experiment. Der Ort, an dem die Bilanz beider Bemühungen gezogen wurde, war der Salon, den Charles Gabriel Lemonnier 1814 als Idealtableau der französischen Geisteselite malte, auf dem fünf Dutzend Personen zusammensitzen, die sich nie gemeinsam in einem Raum befanden. Damals, nach Napoleons Niederlage und der Rückkehr der Bourbonen, war die Aufklärung schon vorbei. Oder nicht?

Die Unschärfe der Ausstellung liegt in der Doppeldeutigkeit ihres Begriffs begründet. Man kann damit ein Zeitalter benennen oder ein Projekt, wie es Jürgen Habermas im Katalog ein weiteres Mal beschwört. Das Zeitalter spiegelt sich in den Exponaten, die die oberen Etagen im Pei-Bau füllen: Drucke, Gemälde, ledergebundene Bücher, Fische in Formaldehyd, ein Elektrisierapparat von Goethe, ein Modell der Synagoge von Seesen, ein Stadtplan von Lissabon vor und nach dem Erdbeben von 1755. Das Projekt hingegen lässt sich schwerer veranschaulichen. Die Kuratorin hat zu diesem Zweck gut zwanzig Statements von Experten auf Medienstationen versammelt, auch solche von Aufklärungskritikern wie Kwame Anthony Appiah und Martha C. Nussbaum.
Man würde ihnen gern länger zuhören, aber am Ende landet man doch wieder vor einem Objekt, das den zwiespältigen Geist der Epoche verkörpert. Es ist eine metallene Tabaksdose, in deren Deckel das Emblem der Abolitionisten-Bewegung, ein kniender Sklave, und das Motto „Humanity“ eingeprägt ist. Die postkoloniale Theorie hält der Aufklärung ihre rassistische Schlagseite vor, ihre Verteidiger betonen dagegen den emanzipatorischen Grundzug ihres Denkens. In der Dose, die den durch Sklavenarbeit geernteten Pfeifentabak mit dem bildlichen Appell zur Sklavenbefreiung verziert, ist beides in eins gefasst. In einer künftigen Ausstellung über die ökologische Katastrophe des 21. Jahrhunderts wird man wohl ebenso ungläubig staunend einen tonnenschweren Elektro-SUV von 2024 betrachten.

„Triumphales Unheil“ sahen Horkheimer und Adorno in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ nach dem historischen Sieg der Moderne über die Erde hereinbrechen. Schon in der Französischen Revolution hatte das Unheil über seine Vordenker triumphiert, so dass man sich wundert, warum in einer Ausstellung, die dem Kolonialismus breiten Raum gibt, die terreur gar keine Rolle spielt. Denn der Schritt von gedachter Emanzipation zu gelebter Inhumanität, den die Aufklärung in ihren politischen Exzessen vollzogen hat, wird in der Tugendherrschaft Robespierres am frühesten und deutlichsten sichtbar.
Deren Gegenmodell ist die Sozialethik, wie sie Baruch Spinoza – auch er ein Niederländer des siebzehnten Jahrhunderts – in seinen Schriften entwickelt hat. Bei Spinoza ist, wie Jonathan Israel in einem Katalogaufsatz erläutert, die Nachfolge Christi mit dem Prinzip moralischen Handelns und dieses wiederum mit der Staatsform der Demokratie verknüpft. Wegen seiner Absage an jede kirchliche Autorität war der abtrünnige Jude Spinoza bei vielen späteren Aufklärern als Atheist verschrien; seine Werke standen auf dem Index der Inquisition. Goethe indessen setzte der „großen und freien Aussicht über die sinnliche und sittliche Welt“, die ihm Spinoza gab, in „Dichtung und Wahrheit“ ein sprachliches Denkmal.
Das sprechendste Exponat im DHM ist ein rundes Stück Papier. Es stammt aus dem Besitz des Revolutionsbürgermeisters von Lyon, und man muss nahe herangehen, um zu erkennen, was es enthält: die „Allgemeine Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ von 1789 im Taschenformat. Wenn man die Aufklärung auf ihren programmatischen Kern reduziert, passt sie auf einen Bierdeckel. Das, was darauf steht, hat seine Sprengkraft nicht verloren, auch wenn die Art seiner Formulierung historisch geworden ist. Es ist gut, dass diese Ausstellung daran erinnert.
Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert. Deutsches Historisches Museum, bis 6. April 2025. Der Katalog kostet 30 Euro.