Kultur

Ausstellung „High Noon“ in Kiel: Schutzlose Blicke auf die Ungeschützten | ABC-Z

Da steht sie, gelehnt an einen vierflammigen Gasherd, hinter ihr hängen dichtgedrängt Bratpfannen, Siebe und Topfdeckel: Nan Goldin, noch jung, noch unbekannt, ein frühes Selbstporträt aus den so fernen 1970er-Jahren. Es ist eines der ersten Bilder, auf das man schaut, das einen also begrüßt und das auch den Takt angibt: Die Künstlerin schaut in die Welt, auf dass die Welt sie anschaut. Wie im Duell.

„High Noon“ lautet der Gesamttitel der Ausstellung, mit dem die Stadtgalerie Kiel ihre Gäste durch die erste Hälfte dieses eigenartigen Krisensommers leitet. Zu sehen sind Fotografien von Nan Goldin und ihren langjährigen Wegbegleitern David Armstrong und Mark Morrisroe; dazu gesellen sich Werke von Philip-Lorca diCorcia.

Die Ausstellung schöpft dabei aus dem Fundus der Sammlung FC Gundlach: Franz Christian Gundlach, Jahrgang 1926 und von Haus aus Modefotograf, war zeitlebens ebenso Entdecker, immer auch engagierter Förderer junger Foto-Künstler und -Künstlerinnen. Und nun haben die von ihm in den frühen 1990er-Jahren zu seiner Sammlung hinzugekauften Fotografien – alles Originale also – ihren Weg an die Förde gefunden. Das dürfte auch mit daran liegen, dass Stadtgalerie-Leiter Peter Kruska zu Goldin und ihrem künstlerischen Umfeld promoviert hat: „Der subjektive Blick der Fotografie der ‘Boston School’“ lautet der Titel seiner Diss. In Boston haben damals alle vier studiert, an der dortigen „School of the Museum of Fine Arts“.

Und nun Kiel, was schlicht ein guter Ort ist. Denn im Umfeld der Goldin-Schau in der Berliner Nationalgalerie war zuletzt viel Getöse: Dort ging es vornehmlich um die Positionierung der Künstlerin zugunsten des BDS, ihren Vergleichen Israels mit dem von Pogromen geprägten zaristischen Russland und der hin- und her-Debatte, die bis heute andauert.

Philip-Lorca diCorcia bekam 1992 ein Stipendium unter der Auflage, es nicht zu nutzen, um obszöne Bilder zu schaffen

Schwamm drüber – wir sind in Kiel. Und Kiel ist eine eigene Welt, vielleicht etwas langweilig und manchmal schluffig, aber das hat Vorteile. Endlich kann man sich mal wieder auf Nan Goldins Bilder und die der anderen fokussieren und sie einfach nur betrachten: den Werdegang von Goldins Lebensbegleiter Cookie und Vittorio etwa. Am Ende ihres kurzen Lebens in Zeiten von Aids, Krankheit und Ausgrenzung liegen beide je in einem Sarg, stumm und fern.

Er ist hochaktuell wie bleibend radikal, dieser oft so schutzlose Blick auf die Ungeschützten, wie in Goldins Selbstporträt als misshandelte Frau einen Monat später. Dazu David Armstrongs verschattete, fast klassische Schwarz-Weiß-Porträts.

Außerdem gibt es von ihm noch emphatisch unscharfe Landschaftsaufnahmen, die in schweren, schwarzen Rahmen hängen. Und die von Beginn an bewusst mit einigem Aufwand komponierten Einzel- wie Gruppenbilder von Philip-Lorca diCorcia, der mit der Goldin-Clique nie etwas zu tun haben wollte, weshalb er für die Mehrzahl seiner Bilder einen separaten Raum bekommen hat.

Dass Philip-Lorca diCorcia am Ende auf eigene Weise doch dazu gehört, sieht man, schaut man seine Serie über männliche Prostituierte in Los Angeles an, für die er 1992 ein Stipendium bekam. Das wiederum war an eine Bedingung geknüpft: Er dürfe von dem Geld keine so genannten obszönen Bilder erschaffen – es war das Zeitalter des Ronald Reagan.

Doch diCorcia wusste sich zu helfen: Vordergründig bekleidet, offenbaren seine Protagonisten sorgsam inszeniert ihr Innerstes, dazu nüchtern der Name, der Ort, der Preis pro sexuelle Dienstleistung. Schlicht ikonisch sein Bild „Marilyn, 28 years old, Las Vegas, Nevada, $30“, weit mehr als ein visuelles Marilyn-Monroe-Zitat, das vielleicht stärkste Bild der Ausstellung, wenn man sich partout für eines entscheiden will.

Die Ausstellung

„High Noon. Nan Goldin, David Armstrong, Mark Morrisroe, Philip-Lorca diCorcia. Werke aus der Sammlung F.C. Gundlach“, Kiel, Stadtgalerie. Bis 31. 8.

So schlendert man durch die Räume, beruhigend surrt die Klimaanlage, weiches Licht fällt durch die mit Gaze verhängten Fenster und eine eigene, sanfte Stimmung mag einen mit sich tragen, die einen beim Nachdenken womöglich ins Heute führt: Alle Personen, die wir schauen, die sich uns bis heute zeigen, in ihrem Glück, ihrem Unglück, im Reich dazwischen, haben sich auch in ihrem zugewiesenen Außenseitertum erst mit zeitlichem und räumlichem Abstand als Abgebildete zu sehen bekommen. Sie bekamen sich nicht, wie seit dem Sieg der Digitalisierung üblich, augenblicklich präsentiert. Wir sehen sie also als Bild, durchaus dem Gemälde verwandt, und nicht als Schnappschuss, womöglich in Sekundenschnelle mit einer Fingerbewegung wieder weggewischt und ausgelöscht.

Von wegen Schnappschüsse und Handys: Das Abfotografieren der ausgestellten Werke ist selbstverständlich ausdrücklich verboten. Mitnehmen muss man sie daher im Kopf, und wer weiß, was sie dort bewirken.

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