Politik

Aufstand gegen den Kanzler: Die SPD steuert auf einen Totalschaden zu | ABC-Z

Die Rufe nach Boris Pistorius als SPD-Kanzlerkandidat sind seit dieser Woche kein Sturm im Wasserglas mehr. Die Einlassungen aus NRW gleichen mehr einem Orkan, der im Ernstfall die SPD hinwegfegen könnte. Der Schaden für Amtsinhaber Olaf Scholz ist schon jetzt kaum mehr zu beheben.

Der Bundeskanzler hat in der ersten Novemberwoche zum Präventivschlag ausgeholt. Bevor die FDP ihn während einer geplanten Auslandsreise vorführen würde, schmiss er die Liberalen lieber noch vor seinem Abflug zum EU-Treffen in Ungarn aus der Bundesregierung. Keine zwei Wochen später holt ihn das Szenario doch noch ein, diesmal aber aus den eigenen Reihen. Während sich Olaf Scholz noch beim G20-Gipfel in Brasilien aufhält, lassen die Spitzen der nordrhein-westfälischen SPD-Bundestagsabgeordneten die Bombe platzen: “Im Zentrum steht die Frage, was die beste politische Aufstellung jetzt für diese Bundeswahl ist. Dabei hören wir viel Zuspruch für Boris Pistorius”, erklären Wiebke Esdar und Dirk Wiese am Dienstagabend. In der SPD brennt jetzt die Hütte.

Wiese ist stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion. Er gehört zudem zu den Vorsitzenden des Seeheimer Kreises – jener einflussreichen Gruppierung konservativer Sozialdemokraten, die Scholz bislang treu zur Seite stand. Die Parlamentarische Linke (PL), der Esdar angehört, war da in der Vergangenheit deutlich kritischer mit dem SPD-Regierungschef, etwa in der Frage der Vermögenssteuer, der Schuldenbremse und des Umgangs mit der FDP. Hinzukommt: Nordrhein-Westfalen ist nicht irgendein Landesverband. Es ist der Mitglieder-stärkste im größten Bundesland. Das Ruhrgebiet ist zudem noch immer Herzkammer der sich selbst als Arbeiterpartei verstehenden SPD.

“Übliche Scheißhaus-Debatte in der SPD”

Dem Landesverband gehört auch SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich an. Er war, wie ntv aus der Fraktion hört, über den Schritt von Wiese und Esdar nicht vorab informiert. Er hätte vermutlich versucht, die öffentliche Stellungnahme zu verhindern. Auch andere NRW-Bundestagsabgeordnete waren nicht eingeweiht. Aus gutem Grund: Das Stimmungsbild ist in der Landesgruppe nicht einheitlich. Es gibt auch NRW-Abgeordnete, die entweder Pistorius nicht für die bessere Wahl halten oder aber zumindest die öffentliche Debatte über einen Kandidatentausch für höchst schädlich halten.

Der zur PL gehörende SPD-Bundestagsabgeordnete Ralf Stegner aus Schleswig-Holstein sagte ntv, er “halte manche der Hühnerhofdebatten eher für Nervosität”. Die Fragen seien “nicht unverständlich, aber auch nicht hilfreich”. Stegner appellierte an seine Partei, “gute Nerven” zu bewahren. Aus der Parteizentrale Willy-Brandt-Haus ordnet jemand die Diskussion als eine der “üblichen Scheißhaus-Debatte in der SPD” ein. Journalisten hätten Hinterbänkler angerufen, in der Hoffnung, dass sich die Debatte über einen Tausch der Kanzlerkandidaten verselbstständigen würde. Weitere SPD’ler, die den Vorstoß aus NRW ebenfalls für schädlich halten, wollen sich lieber nicht äußern, um die mediale Debatte nicht zu befeuern.

Vielen SPD-Abgeordneten droht Rausschmiss

Tatsächlich wäre die SPD nicht in dieser Situation, würden Medien nicht seit Monaten darauf hinweisen, dass der Bundesverteidigungsminister so viel beliebter ist als der Bundeskanzler. Auch im von Forsa erstellten RTL/ntv Trendbarometer ist Pistorius seit eineinhalb Jahren konstant der Bundespolitiker, der das höchste Ansehen genießt – während Scholz’ Ansehen nur eine Richtung kannte: schleichend, aber konstant, nach unten. Im jüngsten Politiker-Ranking kann Pistorius seine Führung mit 57 von 100 möglichen Punkten noch ausbauen. Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz liegt mit 39 Punkten auf Platz fünf. Scholz rangiert mit 30 Punkten auf Platz elf – für einen Amtsinhaber ein desaströser Wert.

Mit der Einlassung von Wiese und Esdar ist die erwähnte Verselbständigung erreicht: Wiese ist nicht erste SPD-Reihe wie Mützenich oder SPD-Chef Lars Klingbeil, aber er ist auch kein Hinterbänkler. Wiese und Esdar berufen sich auf eine Debatte, “die wir alle in unseren Wahlkreisen wahrnehmen”. Das ist sich nicht ausgedacht, untermalt aber vor allem die Panik unter den NRW-Abgeordneten: 2021 holten die Sozialdemokraten in dem Bundesland noch 49 Mandate, davon 30 direkt gewählte Abgeordnete.

Deren Zahl könnte sich im Februar halbieren: Im neuen RTL/ntv-Trendbarometer liegt die SPD bei 15 Prozent. Ihr Zuspruch in NRW ist auf Niveau des Bundesschnitts: Auf 16 Prozent kam die SPD in der jüngsten infratest dimap-Umfrage im Auftrag des WDR für den Fall von Landtagswahlen. Wer keinen vorderen Platz auf der Landesliste ergattert, muss sich mit dem Gedanken einer beruflichen Neuorientierung vertraut machen. Das gilt auch für die 158 Abgeordneten aus den übrigen Ländern, besonders aber für die Mandatsträger aus dem Osten. Schon die Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen im Sommer waren ein Desaster für die SPD. In Brandenburg hatten es der beliebte Ministerpräsident Dietmar Woidke sowie die sonst CDU und Grünen wählenden AfD-Gegner für die SPD herausgerissen.

Es riecht nach Krisengipfel

Die Stellungnahme von Esdar und Wiese erhöht, wie einen Tag zuvor schon SPD-Urgestein Franz Müntefering, den Druck auf das Scholz-Lager: “Letztlich entscheiden die Parteigremien über die Frage der Kanzlerkandidatur”, so Esdar und Wiese. Das maßgebliche Gremium ist der Bundesvorstand um die Vorsitzenden Lars Klingbeil und Saskia Esken. Klingbeil wurde bislang nicht müde, zu betonen, dass Scholz Kanzlerkandidat der SPD sein werde. Erstickt hat er die Debatte damit nicht. Wenn der Kanzler nicht von sich aus aufgibt, und darauf deutet nichts hin, muss der Bundesvorstand dessen erneute Nominierung zum SPD-Spitzenkandidaten schon sehr gut begründen, um den Laden zu beruhigen.

Schon jetzt geht ein Riss quer durch Partei und Fraktion. Die Unterstützer von Scholz, ob aus Überzeugung oder Pragmatismus, dürften die Aufbegehrenden als illoyal betrachten. Weitere Pistorius-Fans werden in den kommenden Tagen aus der Deckung kommen, ermutigt von Esdar und Wiese. Geht die SPD im Februar mit weniger als 20 Prozent ins Ziel, wird abgerechnet. Das Sprengpotenzial für die SPD ist immens.

Hinter den Kulissen dürften Mützenich und Klingbeil gerade alles in Bewegung setzen, um die Herde wieder zusammenzutreiben. Der außer- wie innerparteilich beliebte Klingbeil erfährt gerade einen unerwarteten Test seiner Autorität. Am späten Nachmittag will die SPD-Spitze nach ntv-Informationen zur Lage beraten. Es riecht nach Krisengipfel, doch nach SPD-Angaben handelt es sich um einen regelmäßigen Termin. Um das Thema ‘Scholz oder Pistorius?’ werden die Teilnehmer dennoch nicht herumkommen.

Entscheidung am Montag?

Der Fahrplan der Partei-Oberen sieht vor, dass Scholz in zwei Schritten zum Kanzlerkandidaten gekürt wird. Am Samstag, 30. November, soll bei der “Wahlsiegkonferenz” die vorab erfolgte Festlegung auf Scholz durch den Bundesvorstand vollzogen werden. Beim SPD-Bundesparteitag am 11. Januar sollen dann die Delegierten diese Entscheidung mit einem möglichst starken, formal aber nicht notwendigen Votum absegnen.

Bleibt es bei diesem Verfahren, schwelt die Debatte noch bis mindestens Montag. Dann tagt das Parteipräsidium unter Teilnahme des wieder heimgekehrten Scholz und dürfte die Festlegung auf einen Kandidaten vollziehen. Das Risiko, dass bis dahin aus dem Schwelbrand ein nicht mehr einzufangender Flächenbrand wird, muss das Scholz-Lager beunruhigen. Andererseits hat SPD-Ikone Müntefering einer vorschnellen Festlegung auf Scholz im Hinterzimmer einen Riegel vorgeschoben: “Kanzlerkandidatur ist kein Spiel, das zwei oder mehr Kandidaten abends beim Bier oder beim Frühstück vereinbaren oder das ein Vorrecht auf Wiederwahl umfasst”, sagte der 84-Jährige dem “Tagesspiegel”.

Dem Kind namens Wahlkampf droht Sturz in Brunnen

Bitter aus SPD-Sicht: Schadlos kommt niemand mehr aus dieser K-Debatte heraus. Pistorius wäre ein Kandidat aus der Not, ein Behelfskandidat wie die bei der US-Präsidentschaftswahl jäh abgestürzte Demokratin Kamala Harris. Bleibt Scholz Kandidat, wird er den entstandenen Makel nicht mehr los. Friedrich Merz und seine Union werden in den Wochen bis zur Wahl beharrlich darauf hinweisen, dass ja nicht einmal mehr die eigenen Leute Scholz zum Bundeskanzler haben wollten – so wie die SPD 2019 Scholz auch nicht zum Parteivorsitzenden haben wollte.

Bleibt aber Scholz im Rennen, droht ihm am 23. Februar ein schmachvolles Ende als neunter Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Wirft er schon in den kommenden Tagen hin, nimmt er dieses schmachvolle Ende vorweg. Scholz dürfte eher auf seine Restchance setzen, das Blatt noch zu wenden, indem er die Kanzlerkandidatur durchzieht. Doch auf eine neue Umfragedynamik mit Scholz an der Spitze deutet nichts hin. Im Gegenteil: Scholz’ Rückstand auf Merz wächst.

Auch Vize-Kanzler Habeck ist beliebter als sein Chef. Sollte die SPD vor dem Hintergrund des öffentlich gewordenen Personalstreits in den kommenden Wochen gar hinter die Grünen zurückfallen, könnte der Wahlkampf zum Duell zwischen Habeck und Merz werden -zulasten der SPD. Dann droht eine zerstörerische innerparteiliche Eigendynamik. Es müsste daher allen Beteiligten an einer schnellen und endgültigen Beilegung der Debatte gelegen sein. Was Scholz- oder Pistorius-Unterstützer eint: Dreieinhalb Jahre nach ihrem sensationellen Wahlsieg wollen und müssen die Sozialdemokraten einen Totalschaden für die SPD abwenden.

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