Auf Pasolinis Spuren durch Italien | ABC-Z

Ventimiglia
Das Buch war ein Erfolg. Die Italiener begannen sich dafür zu interessieren, wer die vielen Urlauber an ihren Stränden waren. Cinecittà blühte mit amerikanischen Schauspielern und italienischen Regisseuren auf. Viele neue Zeitschriften kamen heraus und bahnten den Weg in eine mondäne und moderne Welt. Rund 6000 Kilometer fuhr Pier Paolo Pasolini im Alfa Romeo Giulia, den er sich von Federico Fellini geliehen hatte, an den Stränden entlang, auf der Suche nach Erfahrungen. Sein Text war wie er: poetisch, persönlich, politisch, philosophisch. Er liebte sein Land und betrauerte den Verlust der Traditionen, das ist in jeder Zeile nachzuempfinden.
So nah und doch so anders! Das Grenzstädtchen Ventimiglia, zu dem man früher aus Nizza kam, um für wenig Geld auf dem Markt Kochtöpfe, Strandgut, Honig, Unterwäsche und Holzsandalen (Zoccoli) einzukaufen, ähnelt der Filmkulisse einer verlassenen Westernstadt. Als wir früher mit unserer Frankfurter Radfahrergruppe hier Urlaub machten, gingen die Ausflüge nach San Remo, Imperia und Alassio, um Eis zu essen und ein paar Orangen direkt von den Bäumen zu pflücken.
Zoccoli! Sie waren der Markt-Hit schlechthin. Auch ich bekam von meiner Mutter ein Paar – mit rotgepunkteter Schleife.
San Remo
Ohne das Glück herausgefordert zu haben, wollen wir nicht fahren. Also auf ins Casino. Leider ohne Erfolg und ohne Fotos. Kameras sind nicht zugelassen, und das Eintrittsgeld ist unverschämt hoch. Wir trösten uns mit der Betrachtung der auf den Treppen stehenden Casino-Besucher. Das wahre Spektakel findet tatsächlich draußen statt. Die Damen und Herren wollen bei ihrem Auftritt auf der Casino-Bühne ihre beste Vorstellung geben. Eleganz und Stil aus glänzenden Zeiten sind heute durch Kitsch und Exzesse ersetzt. Hier herrscht nur noch die vermeintliche Eleganz des Samstagabends. James-Bond-Typen gibt es nur noch im Film.
Am nächsten Morgen ein letzter Blick auf den Hafen. Und weiter in Richtung Alassio, zu jenem Strand, an dem ich vielleicht Pier Paolo Pasolini begegnet bin. Während ich als kleines Mädchen Sandburgen baute und Muscheln suchte, war er auf dem Weg zum gefeierten Dichter, verfemten Soziologen, engagierten Journalisten und Filmregisseur. 1972 zog er mit seinem Film „Uccellacci e uccellini“ („Große Vögel, kleine Vögel“) triumphal in die Filmgeschichte ein.
Hatte er das Mädchen mit den schwedenblonden Haaren bemerkt, die in Italien nur aus der Tube kommen konnten und deshalb, wenn überhaupt, den Erwachsenen vorbehalten waren? War ihm die kleine Touristin aufgefallen? Hatte er sich an das Kind erinnert, das Sandburgen baute, als er in seinen Reise-Betrachtungen über „blonde Mädchen“ schrieb? Eher nicht. Aber die romaneske Vorstellung, in seinen Überlegungen vorgekommen zu sein, motiviert mich von Neuem, seine Spuren im Sand zu verfolgen.
Genua
An den populären Stränden ohne grell bemalte Plastikspielplätze amüsieren sich die jungen Burschen, indem sie unentwegt von Felsen oder Molen ins Meer springen, so wie damals Enrico und seine Freunde in Diano Marina. Einige kratzen Muscheln von den meerumspülten glitschigen Felsen ab und essen sie roh, wie damals Emilia, Milli und ich. Die Freude an der Jugend hat Pasolini mit Entzücken dokumentiert. Auf ihren Spuren reiste er immer weiter südlich bis nach Afrika, weg von einer Zivilisation, deren entfremdete, konsumorientierte, unmenschliche Entwicklung er schon Ende der Vierzigerjahre prophezeit hatte.
Wir halten in Spotorno. Wir haben das Glück, während des Wochenmarkts anzukommen. Schmal zieht er sich zwischen Mauer und Meeresstraße dahin. Einheimische kennen den Weg zu ihren Ständen, Touristen verlieren sich in den Schnäppchen. Zwei Nonnen stehen am Süßigkeitenstand und füllen ihre Plastiktütchen.
Dann also endlich Genua. Die alte Hafenstadt wirkt fast verloren angesichts der riesigen Passagierdampfer, Frachtschiffe und Kräne, die wie Messetürme in den Himmel ragen. Sticht man auf dem Oberdeck eines Ozeanriesen stehend in See, sieht man die Altstadt, die sich den Hügel hinaufzieht, zusammengewürfelt aus einstmals vielfarbigen Häuserfassaden, die heute verblasst sind. Früher war das ein wichtiges kommerzielles Zentrum, aber der Lack ist abgeblättert.
Der Strand liegt außerhalb des Hafens, ist weder gepflegt noch gut gelegen. Pasolini gefiel dieses einfache Stück Strand trotzdem, er bot Zugang für alle und jeden. Heute ist es bloß ein Flecken mit grauem Sand, Abladeplatz für gigantische Plastik-Spielsachen, verkommene Fischerboote und Holz- und Plastikkisten. Aus der Mauer an der Straße gucken traurige Metallrohre mit Duschköpfen, direkt daneben stehen Abfallcontainer. Man duscht gemeinsam, wäscht auch einmal seine Wäsche. Liegestühle gibt es nicht. Man liegt inmitten von umherwirbelnden Papiertüten und Hinterlassenschaften früherer Strandbesucher direkt auf dem grobkörnigen Sand. Oder man bringt einen eigenen Stuhl mit.
Pasolini gefiel dieses einfache Stück Strand trotzdem, er bot Zugang für alle und jeden. Heute ist es bloß ein Flecken mit grauem Sand, Abladeplatz für gigantische Plastik-Strandspielsachen, verkommene Fischerboote und Holz- und Plastikkisten.
Also lassen wir das Chaos aus Autobahnen, Dampfern und Kränen hinter uns. Wo Küste und Meer aufeinandertreffen – das war für mich in der Kindheit eine Verheißung, ein Versprechen auf Weite und Ferne. Portofino war zwar nie mein Traum: zu viele Touristen, zu teuer, zu kompliziert, zu alles. Aber der Blick von den Hügeln des Parco di Portofino hinunter ist atemraubend. In das ehemalige Fischerdorf kommen Tagesausflügler. Die Terrassen der Restaurants sind jeden Abend belegt. Man kommt per Boot, zu Fuß aus dem Sommerhäuschen oder mit dem Auto von Santa Margherita Ligure, um den Abend bei Spaghetti alle vongole und gegrilltem Fisch zu verbringen.
Am nächsten Morgen geht es weiter. Hinter La Spezia beginnt die Toskana, ein anderes Italien, eine gepflegte Küstenlandschaft.
Forte dei Marmi
Seitdem Pier Paolo Pasolini hier war, seit 1959, sind es weit mehr Strände geworden. Jeder Ort kippt sie an das Meeresufer. Es ist August, der Urlaubsmonat. Die Italiener haben die Küsten und Inseln erobert und überlassen ihre Städte den Touristen. Bei 40 Grad die Nationalstraßen am Meer entlangzufahren und überfüllte Parkplätze und Strände hinzunehmen, die mit Autos, Motorrädern und allem sonstwie Fahrbaren endlos gesäumten Straßenränder in Kauf zu nehmen – das zeugt von unserer Willensstärke. Einen Liegestuhl, einen Tisch, ein Getränk oder ein Panino zu ergattern ist eine Herausforderung auf dieser Strecke. Die Urlauber liegen am Strand, gehen hin und her oder stehen einfach im Wasser. Italiener schwimmen selten. Sie stehen in kleinen Gruppen bis zu den Knien im Wasser, die Hände auf die Hüften gestützt, blicken auf den Horizont, diskutieren heftig oder geben sich der Beobachtung vorbeilaufender Badegäste hin.
Es scheint, als hätte der Sommer die Aufgabe, eine lebensnotwendige Selbstwirksamkeit durch ein großes Nichts zu ermöglichen. Nur die Kinder brechen dieses Stillleben hin und wieder auf, indem sie die Oberkörper der Stehenden mit Wasser bespritzen und Sand auf Liegestühle wehen lassen.
Das Leben kann leicht sein. Das Gefühl der Freiheit, der vorübergehenden Gleichheit, das Maß an gebräunter Haut und verzehrtem Eis sind durch nichts zu ersetzen. Schon in den Zwanzigerjahren wurde den Arbeitern hier Erholung ermöglicht. Bis heute ist das im Grunde gleich.
Die nächsten Perlen auf der Kette heißen La Spezia, Lerici und Cinquale. Ziel sind Viareggio und Forte dei Marmi. Wir fahren am Meer der Toskana entgegen. Forte dei Marmi zieht sich lang hin. Alles ist flach, das Wasser inbegriffen. Man muss lange ins Meer hineinlaufen, um überhaupt schwimmen zu können. Ideal für Familien mit kleinen Kindern. Und für wasserscheue Sonnenanbeter, Feinschmecker und Liebhaber des Nachtlebens, in einem edlen Stil.
Forte dei Marmi hat Tradition, seit Gianni Agnelli hier seine Luxusvilla baute, heute ist es ein Hotel. Das Haus der Tochter von Thomas Mann sticht in seiner Modernität hervor. Die Marmorbrüche Carraras, die in der Sonne weiß blitzen, liegen in den Bergen der Versilia. Es ist ein kontrastvolles Bild: oben ein Band blauer Himmel, darunter Wolkengebilde, die auf dunkelgrünen Bergen festsitzen und immer wieder große weiße Steinbrüche entblößen; daher kommt der weiße Marmor, der bei Bildhauern und Bauherren so beliebt ist. Unter den Schatten dunkelgrüner Pinienwälder Häuser in quadratischer Ordnung. Zum Schluss endloser Verkehr auf zwei Rädern, am besten mit Handy am Ohr, man muss ja dauernd mit jemandem sprechen. Es ist amüsant zu hören, um was es dabei geht. Um alles und nichts. Meistens um nichts. Aber darum geht es ja.
Viareggio
Wir übernachten in einem der dekadenten Palazzi, der mit überdimensionierten Räumen, endlos hohen verschnörkelten Decken, großzügigen Balkons und kühlen Marmorböden vor allem durch seine dürftige Einrichtung auffällt. Einsam vegetieren Zimmer und Salons vor sich hin. Tag für Tag sind sie mit ihrer Nutzlosigkeit konfrontiert. Nostalgie einer Zeit, in der Badegäste eine sommerliche Bleibe bevorzugten, die ihrem eigenen Zuhause glich. Nur der Blick auf das Meer ist weder modegebunden noch eine Frage der finanziellen Möglichkeiten. Das lebendige dunkelblaue Meer Liguriens, der Riviera di Ponente und der Riviera di Levante, geht in ein entferntes, wellenloses, hellblaugraues Wasser über. Der Wind zieht daran vorbei und greift nicht frontal an. Das Meer bäumt sich nicht auf, der sandige Boden ruht.
Unser nächstes Ziel ist Porto Ercole. An der toskanischen Küste waren 1959 weitaus weniger Bade- und Strandorte. Die Gegend ist teilweise sehr felsig und machte eine Erschließung schwierig. Anders als Ligurien hat die Toskana schon immer auf Geschichte, Architektur, Kunst, Weinanbau und die einzigartige geographische Lage gesetzt. Kultur triumphierte über Strand. Das Meer lag hinter der hügeligen Landschaft, weit unten. Eine einsame, bergige Gegend mit abfallender gefährlicher Küste. Zu gefährlich, zu einsam, zu ruhig für den Massentourismus. Irgendwann kam er dann aber doch.
Monte Argentario
Gegenüber liegt die Isola del Giglio. Hier sank 2012 das Kreuzfahrtschiff Costa Concordia, 32 Personen kamen ums Leben. Die Bergung des Wracks gelang erst nach zwei Jahren, das Schiff wurde nach Genua überführt und dort schließlich verschrottet. Dann war der Blick aufs Meer wieder makellos.
Ostia
Ein paar hundert Meter vom Strand entfernt ist ein kleiner Friedhof. Dort wird mit einer Gedenktafel an ihn erinnert. Auch viele einfache Menschen, denen die kulturelle Reichweite seiner Arbeit nicht bewusst ist, erinnern sich an ihn, angetan von seiner Liebenswürdigkeit, seiner Ausstrahlung, der Nähe, die er herzustellen vermochte. Vor allen Dingen im Mezzogiorno, im Süden, suchte er seine Erlösung. Er fand sie nicht.
Wir kehren im erstbesten Strandhotel ein. Seltsam, es scheint, als wäre alles dem Zufall überlassen. Die Zimmernummerierung ist willkürlich, und um sein Zimmer zu finden, muss man einmal hoch, einmal runter mit dem Aufzug fahren, um schließlich über eine Hängebrücke in ein anderes Gebäude zu gelangen. Getränke und Snacks gibt es nur abends, Essen überhaupt nicht, der Parkplatz ist weit entfernt. Im Zimmer ziehe ich die Perlongardinen zur Seite und gehe auf den Balkon. Warum zog es Pasolini hierher? An den Stränden herrscht, wie in der Gesellschaft, eine bestimmte Hierarchie. Am Strand unter meinem Balkon übergelaufene Mülltonnen, verkommenes Strandspielzeug, eine Gruppe von Leuten auf Badetüchern. Die Freiheit, die sie den großen Hunden lassen, die ihre Bedürfnisse verrichten, überhaupt die Platzbeherrschung ist die Inszenierung von Macht. Hierarchie, Angst, Macht: Das sind Verhaltensmuster, die Pasolini immer wieder anprangerte.
Es muss die Öde dieses Strands sein, die nachts noch unheimlicher ist, die Entfernung zur Zivilisation, die Pasolini hierherzog. Er fuhr so lange durch die menschenleeren Straßen des proletarischen Roms, bis er auf junge Männer stieß, die sich für ein warmes Essen und ein bisschen Geld prostituierten. (Geschlechtsverkehr mit Mädchen war riskant, es drohten Konsequenzen wie Heirat; dazu hatten arbeitslose Männer weder die Mittel noch das Verlangen.) Die scheinheilige Moral des Vatikans und der römischen Bourgeoisie konnte sich nur nachts auflösen. Pasolini suchte die Ursprünglichkeit, die er im Norden so sehr vermisste. Der „Professore“ war beliebt, man kannte seine Vorlieben und störte sich nicht daran. Die nächtliche Suche nach körperlicher Liebe brachte ihn 1975 auf grausame Weise um. Pasolini wurde in Casarsa della Delizia im Friaul beigesetzt.
Wir müssen weiter, weg von diesem trostlosen Ort. Von hier an südwärts ist es ein anderes Land.
Neapel
Eine Menschenschlange steht vor der Pizzeria „Concettina ai Tre Santi“. Mein Telefon klingelt: Wir sollen sofort aussteigen und hineingehen. Ist das die legendäre Gastfreundschaft oder einfach nur Vorsicht? Wir tippen auf beides. Das achtgängige Pizzatesten kann losgehen. Neapolitanische Folklore, Commedia dell’arte und Weißwein aus den Abruzzen bringen Stimmung. Was für ein Erlebnis! Als ich nach der Rechnung frage, lautet die Antwort: „Aber Signora, Sie gehören zur Familie.“ Ja, der gute Freund aus Catania hat das wohl erledigt. Bis zu unserem Auto werden wir im Schnellschritt eskortiert, für eine Signora sind die Gassen zu gefährlich. Die Matrosen, die Pasolini beim Techtelmechtel zwischen den Booten im Hafen beobachtete, sehen wir nicht. Das Nachtleben barg für „PPP“ eine eigene Wahrheit. Sexualität war für ihn ein Ausdruck von Macht, in einem Ambiente allgemeiner Heuchelei. Diese Machtverhältnisse hat er aufgezeigt, im Film „Die 120 Tage von Sodom“ und im postum veröffentlichten Roman, der keiner ist: „Petrolio“.
Amalfi
Von Ischia aus erreichen wir am nächsten Tag Capri. Die Insel ist eine kleine Hölle voll kunterbunter Teufelchen in Shorts, Sandalen, Hüten und Sonnenbrillen. Unglaublich, wie viele Menschen im Sommer von den Fähren stürzen, die Straßen überfüllen, sich schwitzend auf den Weg zur Piazzetta machen, um am Abend in die entgegengesetzte Richtung zurückzuströmen und das letzte Boot zum Festland zu erwischen. Die Insel droht unter den Menschenmassen zu versinken.
Also fliehen wir zur Blauen Grotte. Aber so einfach ist das nicht, wegen der Vetternwirtschaft und einer gewissen Form von „Omertà“, einer Schweigepflicht, in der man Übung hat. Also, man zahlt und besteigt das Boot in Richtung Grotta Azzurra. Kommt man in die Nähe der Grotte, muss man gegen Bezahlung in ein kleineres Boot umsteigen, das uns wiederum zu einer Art flacher Gondel samt Gondoliere im blau-weiß gestreiften T-Shirt bringt, der neapolitanische Lieder singt, um den Klaustrophoben in der engen Grotte die Angst zu nehmen. Die Absprachen der Betreiber über „wer“, „wie viel“ und „wann“ bleiben verschwommen. Sie rufen sich Wörter zu, die in keinem Lexikon zu finden sind.
Also auf nach Amalfi! Die Straße, dem Hang abgerungen, ist nur etwas für geübte Autofahrer. In den engen Kurven gibt es kein Zurück mehr. Kommt einer der kleinen Busse entgegen, werden die Ausweichmanöver akrobatisch. Atemraubend schön ist sie, diese Straße, die zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. So viel Blau aus dieser Höhe ist ein Anblick, der kaum zu ertragen ist. Kleine Orte wie Atrani, Maiori, Minori, Positano und Vietri sul Mare säumen das Meer. Amalfi ist Kitsch pur, aber sie nehmen diese Ästhetik eben ernst, sehr ernst.
Hier im Süden sind Menschen, die behindert sind oder sich auffällig verhalten, das Normalste der Welt. Die Familien, die Opas, Tanten, Cousins, beziehen sie mit ein. Die Familie fängt alle auf.
Sitzt man endlich im Terrassen-Café, kann die Vorstellung beginnen, eine Mischung aus Commedia dell’arte und „Divina Commedia“. Im Land, wo die Zitronen blühen, ist auch der Weihrauch nicht weit. Mitten im Getümmel sucht sich eine kleine Prozession ihren Weg zum Meer: ein Priester, zwei Knaben, die eine Madonnenstatue tragen, und ein paar Gläubige. Alte und Kranke werden von ihren Familien auf Stühlen am Rand der Straße positioniert. Sind wir in einem Film von Federico Fellini? Ich muss an die Verunstaltung des Schönen im „Tod in Venedig“ denken, von Thomas Mann wunderbar beschrieben, von Luchino Visconti genial inszeniert. Hier im Süden sind Menschen, die behindert sind oder sich auffällig verhalten, das Normalste der Welt. Die Familienbande, die Opas, Tanten, Cousins, beziehen sie mit ein. Die Familie fängt alle auf.
Maratea
Pasolini hatte nicht immer recht mit seinem Vorwurf, dass Fortschritt und Moderne sich zum Nachteil der Gesellschaft und des Landes auswirken. Manchmal verschieben sich bei ihm die Horizonte des Persönlichen und des Objektiven. Hier trafen seine schlimmsten Befürchtungen nicht ein. Das Fischerdorf blieb, wie es war, der Strand ruhig, das Meer wie ein blauer See.
Polignano a Mare
Santa Maria di Leuca an der südlichsten Spitze des Absatzes ist ein richtiger Badeort. Als Erstes fällt mir ein Anhänger mit deutschem Nummernschild auf: Leverkusen. Auf dem Anhänger Liegestühle und Betten, die von Vater und Sohn abgeladen werden. Auch für Auslandsitaliener ist Familie das Wichtigste. Man verkauft seine Wohnung, sein Haus oder seinen Betrieb nur an Fremde, wenn man sie nicht in der Familie übergeben kann. Wenn es nicht anders geht, übernehmen es alle gemeinsam: Söhne, Töchter, Cousins, Cousinen, Tanten und Onkel. Dieses System bringt zwar wenig Bewegung in die gesellschaftlichen Schichten, aber so werden Traditionen aufrechterhalten.
Auf der Promenade tragen Touristen Bauch, Hawaii-Hemden, zu kurze T-Shirts und Gesundheitssandalen. Der Gegensatz zu den Einheimischen fällt auf. Ein Italiener würde nie so über die Promenade spazieren, denn er huldigt der Schönheit, er pflegt Stil und Aussehen, er zieht bei der abendlichen Passeggiata die mühelos wirkende „Sprezzatura“ dem Touristenlook vor.
Prospekte preisen Apulien als unangetastete Naturlandschaft an, mit bester Küche und Südseestränden. Es geht vorbei an Masserien, also ehemaligen Landhäusern, und vereinzelten Trullis, die einem Iglo aus Stein ähneln und zum Ausruhen der Landarbeiter und Tierhüter im Schatten gedacht sind. Eine Mailänder Oberschicht hat Apulien schon lange für sich in Anspruch genommen, erstand Masserien und kaufte Wohnungen und Häuser in Lecce, Foggia oder Gallipoli. Sie verbringen hier lange Wochenenden oder den halben Sommer. Ein Boot gehört zur Standardausrüstung, die Küste ist steil und felsig, zu schwimmen ist nicht so einfach. Man geht in die „Villeggiatura“, lebt also in einer Villa, umgeben von Natur und Meer, mit Köchin, Weinlieferant, Reinigungsdame, Gärtner. Und natürlich der ganzen Familie. Wer macht schon zu zweit Urlaub?
Monopoli und Polignano a Mare sind herrliche Orte im September, wenn es nicht mehr so heiß ist. Oben von den Kliffen kann man von morgens bis abends auf das wunderbare Meer schauen – und sich träumend im Wasser verlieren.
Rimini
Das müsste erst recht für Rimini gelten. Mit unserem Mietwagen fahren wir an der Küste entlang, vorbei an Badeorten wie Senigallia, Cattolica, Riccione. An der langen Straße aus Sand ist Rimini das Juwel. Bis dahin ist das Strandbild eher konfus, die hässlichen Raffinerien geben den Takt vor. Die langen Strände sind durchnummeriert, damit man mit Freunden oder Familie einen Treffpunkt ausmachen kann. Vom bourgeoisen Möchtegern-Strand in Senigallia geht es zum harmonisch angelegten Städtchen Rimini, dem Geburtsort von Federico Fellini. Straßenverkäufer mit vollgepackten Karren bieten Haushaltsartikel, Badeaccessoires und Strandbekleidung an, das meiste kommt aus China. Es weht ein starker Wind am Strand von Riccione. Ich denke daran, was Pasolini 1959 von dem Strand seiner Schülerzeit erzählt. Was hat sich zwischen 1938, 1959 und heute hier verändert? So ziemlich alles.
Mir fällt der Sommerhit des Jahres 2017 ein, „Riccione“ von Thegiornalisti. Es geht um einen jungen Italiener, der in Berlin wohnt und den Sommer am Strand verbringt: „La notte è giovane / Sognami adesso / Parlami d’Amore / Che domani non sarò lo stesso“: „Die Nacht ist jung / Träume jetzt von mir / Erzähle mir von der Liebe / Denn morgen bin ich schon ein anderer.“ Und: „Unter der Sonne, unter der Sonne / Von Riccione, von Riccione / Bereue ich so gut wie nichts / Und denke nicht mehr daran, und denke nicht mehr daran / Unter dem Himmel, unter dem Himmel / Von Berlin, von Berlin / Esse ich ein halbes Panino / Und verliere dich wieder.“ So ist er also, der Sommer.
Ich denke daran, was Pasolini 1959 von dem Strand seiner Schülerzeit erzählt. Was hat sich zwischen 1938, 1959 und heute hier verändert? So ziemlich alles.
Rimini ist vornehm, es hat Tradition. Die Leute im Ort sind sympathisch, hilfreich, aufgeschlossen, weltmännisch. Sie kennen die deutschen Touristen und wollen sie behalten – deutsches Bier gibt es überall. Aber das Grand Hotel, in dessen Park das goldene Rhinozeros aus Fellinis „E la nave va“ („Fellinis Schiff der Träume“) thront, ist fast leer. An den Wänden langweilige Fotos des Maestros. Über Pasolini wissen die Jüngeren wenig. Aber Fellini, der schon 1993 gestorben ist – zumindest in Rimini kennt man ihn noch.
Chioggia
Triest
Die weit ausholende Straße von Grado nach Triest führt über ein Plateau dunkelgrüner Wälder. Triest, die offene Stadt! Ich habe so lange von ihr geträumt, so lange meine Vorstellung von ihr aus Büchern genährt. Die Erwartungshaltung war groß, zu groß. Die große Liebe – eine einzige Enttäuschung, denn das Gefühl der Vertrautheit entsprang nur meiner Vorstellung. Triest, Kreuzungspunkt der Kulturen, ein wichtiges Zentrum Mitteleuropas, das Wien, Budapest und Prag in nichts nachstand. Triest erscheint mir wie die Endstation von alledem, eine Sackgasse am engen Ende der Adriatica, heimgesucht vom winterlichen Bora-Wind, eine ausgelaugte Stadt. Die Piazza ist von drei Seiten umschlossen, die vierte ist das Meer. Es klatscht in Triest an seine Grenzen. Im Hotel, an der Piazza gelegen, werden wir auf Deutsch empfangen. Man spricht italienisch, deutsch, slowenisch und österreichische Dialekte. Staatsangehörigkeit ist nicht gleich Identität. Und Triest ist die Stadt der Literatur und der Sprachen. Hier lebten schon James Joyce, Italo Svevo, Sigmund Freud, Umberto Saba. Hätte es für Antonio Tabucchi einen besseren Ort geben können, Fernando Pessoas „Buch der Unruhe“ zu übersetzen? Der Fremdenführer, Sohn einer slawischen Mutter und eines italienischen Vaters, flüstert mir auf Deutsch ins Ohr, er wünsche sich, Triest würde wieder zu Österreich gehören. Bei Sonnenuntergang ist an der Piazza Unità d’Italia zum Meer hin mehr los. Mädchen schwätzen und lachen. Ein älterer Herr ergreift auf der Mauer die Hand einer Bronzeskulptur. Bald ist der Sommer vorbei. Italien hat uns schon verlassen.