Auf dass die Scham die Seiten wechsle | ABC-Z
Mit der Höchststrafe für den Hauptangeklagten Dominique Pelicot ist der Vergewaltigungsprozess in Avignon zu Ende gegangen. Zu Recht hat das Schicksal der von ihrem eigenen Mann in ihrer Intimität verratenen, hundertfach missbrauchten Ehefrau Gisèle Pelicot weit über Frankreich hinaus die Menschen erschüttert. Die zierliche Frau verkörperte als Nebenklägerin Würde und Anstand in einem Prozess, der in unvorstellbare Abgründe männlicher Sexualität führte. Ihr ist anzurechnen, dass sie nicht pauschal „den Männern“ den Prozess machen wollte, wie dies einige feministische Gruppen verlangten. Die in Deutschland geborene Offizierstochter hat sich bewusst durch zwei männliche Anwälte vor Gericht vertreten lassen. Sie lehnte es ab, in jedem Mann einen potentiellen Vergewaltiger zu sehen. Ihr ging es um etwas anderes.
Sie wolle, dass die Scham die Seiten wechsele, hat die dreifache Mutter und sechsfache Großmutter wiederholt gefordert. Nicht die Opfer von Vergewaltigung, sondern die Täter sollten sich fortan schämen. Für ihren Mut, gegen den Widerstand der Angeklagten und auch gegen den Rat der Richter auf Öffentlichkeit zu bestehen, kann man ihr gar nicht genug Anerkennung aussprechen. Sie ist aus ihrer Opferrolle hinausgetreten und auf diese Weise zum Vorbild geworden.
Es muss sich aber zeigen, ob eine 72 Jahre alte Frau als Beispiel für jüngere Vergewaltigungsopfer taugt, die ihr Leben noch vor sich haben. Nicht nur Scham, auch der Wunsch, das erlittene Leid hinter sich zu lassen und einen Neuanfang zu wagen, erklärt, warum viele Strafprozesse unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Das schmälert nicht das Verdienst Gisèle Pelicots. Sie hat maßgeblich dazu beigetragen, eine Debatte über drei wichtige Themen anzustoßen, die auch in Deutschland wichtig sind.
Rolle des Internets bei sexuellen Straftaten
Da ist zunächst die Frage, wie Frauen besser vor Versuchen „chemischer Unterwerfung“ durch sogenannte K.-o.-Tropfen und andere Medikamente geschützt werden können. In Erfurt steht derzeit ein geständiger Mann vor Gericht, der 17 Frauen vergewaltigte, nachdem er sie mit K.-o.-Tropfen bewusstlos gemacht hatte. Das öffentliche Interesse an dem Fall vor dem Erfurter Landgericht ist nicht ansatzweise so groß wie an dem Prozess in Avignon.
Dieser hat zudem ein Schlaglicht auf die Rolle des Internets bei sexuellen Straftaten geworfen. Ohne einschlägige Internetplattformen wäre es Dominique Pelicot viel schwerer gefallen, in seiner Nachbarschaft mehr als fünfzig Männer zu finden, die sich an seiner bewusstlosen Frau vergingen. Die Internetplattform ist inzwischen verboten, aber wie viele andere Anbieter setzen das Geschäftsmodell fort?
Zudem hat der Prozess enthüllt, wie sehr bis in die heutige Zeit die Vorstellung nachwirkt, dass die Ehefrau ihrem Ehemann sexuell gefügig zu sein hat. Mehrere Angeklagte verteidigten sich damit, es könne sich nicht um Vergewaltigung handeln, weil der Ehemann ja seine Frau zur Verfügung gestellt habe. In Frankreich ist Vergewaltigung in der Ehe seit 1990 strafbar. In Deutschland ist das seit 1997 der Fall. Avignon hat zu einem erneuerten Verständnis beigetragen, dass eine Frau frei über ihren Körper entscheiden muss.
Mit Erwartungen überfrachtet
Die Frage des „consentement“, der Einwilligung oder Zustimmung, ist dabei keine rein juristische. So führt es auch in die Irre, dem schon weitgefassten französischen Straftatbestand der Vergewaltigung eine Dimension der Nichteinwilligung hinzuzufügen. Dieses Vorhaben könnte im Gegenteil eine Täter-Opfer-Umkehr zur Folge haben. Dem Vergewaltigungsopfer könnte dann der Beweis abverlangt werden, dem Geschlechtsverkehr nicht zugestimmt zu haben.
Die beiden Staatsanwälte haben den Prozess bedauerlicherweise mit Erwartungen überfrachtet, denen er nicht gerecht werden kann. Sie äußerten die Erwartung, neue Grundlagen für die Erziehung von Söhnen zu schaffen, und forderten ein Ende der „Kultur der Vergewaltigung“, ein feministischer Kampfbegriff, der den Realitäten des Rechtsstaats nicht entspricht.
Vergewaltigung steht unter Strafe und wird geächtet. Die politische Karriere des Präsidentenanwärters Dominique Strauss-Kahn war beendet, nachdem er ein Zimmermädchen in New York vergewaltigt hatte. Es zählt zu den Vorzügen des französischen Rechtssystems, dass sich Vergewaltiger nicht mit viel Geld freikaufen können, wie Strauss-Kahn dies in Amerika gelang.
Es ist zu begrüßen, dass die fünf Berufsrichter individuelle Strafen verhängt und sich nicht dem Druck gebeugt haben, alle Angeklagten zu der Höchststrafe zu verurteilen. „20 Jahre für alle“, wie es auf Plakaten feministischer Gruppen in Avignon verlangt wurde, wäre eine Niederlage des Rechtsstaates gewesen. Gisèle Pelicots Name steht für dessen Sieg.