Auch die Hizbullah wirkt erschöpft | ABC-Z
Am Horizont ist Hoffnungslosigkeit. Wenn Fatima Assef, eine junge Lehrerin, ihren Blick über die Felder der Bekaa-Ebene schweifen lässt, kann sie ihr Heimatdorf sehen. Sie kann dort aber nicht mehr leben. Es ist eines jener verwitterten Weiler, die sich am Fuße des Libanongebirges entlang einer schmalen Betonpiste aneinanderreihen. Sonnengebleichte Bilder getöteter Hizbullah-Kämpfer zeigen, wer hier das Sagen hat. Hin und wieder stehen Männer aus den Reihen der Schiitenorganisation vor verrammelten Werkstätten und Geschäften auf Posten. Die Straßen sind verwaist. In jedem Ort sind ein oder zwei Häuser durch einen israelischen Luftangriff zerstört worden.
Es wirkt, als seien die grauen Trümmer eine dauerhafte Warnung an die Einwohner: Verschwindet von hier, es ist hier nicht mehr sicher.
Fatima Assef hat in Deir al-Ahmar Zuflucht gefunden, einem christlichen Dorf in einer von Schiiten und der Hizbullah dominierten Gegend. Hier ist die mächtige Miliz nicht präsent, und daher bleibt der Ort von den Bombardements verschont, die regelmäßig die Dörfer in der Umgebung und die nahe Provinzhauptstadt Baalbek erschüttern. Die junge Lehrerin lebt jetzt in einem zugigen Klassenzimmer in einer Schule, die als Notunterkunft für Kriegsvertriebene hergerichtet wurde. Das Leben von etwa 1,4 Million Libanesen wurde durch den Waffengang zwischen Israel und der Hizbullah auf den Kopf gestellt, weil sie ihre Häuser und Habseligkeiten zurücklassen mussten. Viele sind wie Fatima Assef mehr als einmal vor den israelischen Bomben und Raketen geflohen.
Seit September sind auch Hizbullah-Hochburgen wie die Bekaa-Ebene oder die südlichen Vorstädte Beiruts Ziel massiver israelischer Bombardements. Das libanesisch-israelische Grenzgebiet ist schon seit mehr als einem Jahr Kampfgebiet; die irantreue Miliz hatte dort am 8. Oktober vergangenen Jahres eine neue Front eröffnet, um die Hamas im Gazastreifen zu entlasten. Jetzt steht der Winter vor der Tür, der Kälte und neue Härten bringt. Schon jetzt gehen die Vertriebenen in der Notunterkunft in Deir al-Ahmar frierend ins Bett, stehen frierend auf, um sich mit eiskaltem Wasser zu waschen. Wie die allermeisten Libanesen sehnen sie sich nach einem Ende der Gewalt. Dem ganzen Land geht die Kraft aus, nach Monaten des Ausnahmezustands.
Fatima Assef tut sich ein wenig schwer damit, die Kriegsmüdigkeit einzugestehen, oder die Sorge, dass die Gastfreundschaft in ihrer neuen Heimat irgendwann schwindet. Wenn sie auf Fragen danach antwortet, fügt sie oft ein einschränkendes „vielleicht“ ein. „Wir können es nur noch schwer aushalten“, sagt sie. „Vielleicht verlieren wir auch die Hoffnung.“
Andere geben uneingeschränkter zu, dass die Durchhaltefähigkeit schwindet. Eine Psychologin zum Beispiel, die Vertriebene in der Schule betreut und von traumatisierten Kindern berichtet, die Angstzustände hätten und sich nachts einnässten. „Das ganze Land braucht dringend Therapie – ich auch“, sagt sie. Oder der Bürgermeister von Deir al-Ahmar, Natif Kuzah, der im Alter von 84 Jahren noch einmal als Krisenmanager gefragt ist. Er zieht seine gefütterte Jacke nicht aus, als er in seinem klammen Büro über den nahenden Winter spricht.
In der Hizbullah herrscht großes Misstrauen
„Wir brauchen dringend Heizöl“, sagt er. Eigentlich, fügt er an, mangele es an allem. An Medikamenten zum Beispiel, sogar an Lebensmitteln. Es sei nicht mal mehr möglich, die Vertriebenen mit drei Mahlzeiten am Tag zu versorgen. Ohne die Unterstützung ausländischer Hilfsorganisationen wären sie alle völlig verloren. Der von Korruption zersetzte libanesische Staat ist jedenfalls kaum eine Hilfe. Bürgermeister Kuzah verdreht auf die Frage nach der Regierung in Beirut nur die Augen und sagt: „Mach mir das hier doch nicht unnötig schwer.“
Wie überall im Land springt auch in Deir al-Ahmar die Bevölkerung ein, weil die Multimillionäre an den Schaltstellen der Macht versagen. Eine Mitarbeiterin der Stadtverwaltung berichtet, sie habe Dutzend Bekannte aus der Gegend in ihrem Haus aufgenommen. Das seien schließlich Landsleute, unsere „Brüder und Schwestern“, sagen die Leute, die auch lieber von Gästen sprechen als von Kriegsvertriebenen. Aber auch der resoluten Verwaltungsangestellten können irgendwann Kraft und Geduld ausgehen – und vor allem das Geld.
Deir al-Ahmar mag noch von den Angriffen der israelischen Luftwaffe verschont bleiben, aber der Konflikt hat die ruinöse Wirtschaftskrise, unter der die Libanesen schon seit Jahren leiden, noch einmal verschärft. Auch der wirtschaftliche Überlebensdruck nimmt zu, je länger der Krieg andauert. Viele in der Bekaa-Ebene leben von der Landwirtschaft, die Leute aus der Notunterkunft von Deir al-Ahmar, sagen, viele gingen trotz der andauernden Bombardements aufs Feld. Am liebsten, wenn keine israelischen Drohnen über der Gegend kreisen.
„Wenn keine Drohnen am Himmel sind, dann gibt es in der Regel keine Probleme“, sagt einer der wenigen Männer, die in der Schule leben. Der Bürgermeister von Deir al-Ahmar fürchtet trotzdem um die nächste Getreideernte. „Und was, wenn wegen der Luftangriffe irgendwann die Straße nach Baalbek geschlossen wird und unsere Transportwege blockiert sind?“, fragt er. Wie viele seiner kriegsmüden Landsleute schaut der Bürgermeister auf die Verhandlungen über einen Waffenstillstand, in dessen Rahmen sich die Hizbullah von der Grenze zu Israel zurückziehen soll. Die vorherrschende Stimmung ist allerdings Skepsis.
In der Hizbullah herrscht auch großes Misstrauen. Die israelische Regierung sei nicht aufrichtig an einem dauerhaften Grenzdeal interessiert, heißt es aus ihrem Dunstkreis. Aus ihren Reihen heißt es, man bereite sich auf einen langen Krieg vor. Der Haussender Al-Manar preist die „Tapferkeit“, mit der sich die Kämpfer im Grenzgebiet israelischen Bodenoperationen entgegenstellten. Während die „Märtyrer“ inzwischen nicht mehr in täglichen Erklärungen gewürdigt werden, meldet die Hizbullah jede Rakete, die sie weiterhin abfeuert, als Beweis ihrer militärischen Handlungsfähigkeit. Sie will eine Lösung, die nicht zu sehr nach Kapitulation aussieht und die sie als Sieg verkaufen kann. „Wir haben die Wahl zwischen Krieg und Demütigung; die Demütigung legt uns fern“, hat der neue Hizbullah-Generalsekretär Naim Qassem in seiner jüngsten Ansprache gesagt.
Die iranischen Hauptsponsoren haben das Vakuum zum Teil gefüllt
Doch die Schiitenorganisation kann – wie die erschöpfte libanesische Bevölkerung – eine Pause dringend gebrauchen. Sie steht unter enormem Druck. Die in weiten Teilen vertriebene Anhängerschaft leidet. Der Apparat bekommt schwere Schläge durch das israelische Militär versetzt. Einen Einblick in das Innenleben jenseits der Propaganda verschafft ein Treffen mit einem Hizbullah-Kommandeur, das diskret im Großraum der Hauptstadt Beirut arrangiert wird.
„Wir sind in einer sehr schwierigen Lage“, gibt er zu. Das Gespräch findet im Auto statt. Der Mann hat Angst, Ziel eines Drohnenangriffs zu werden. Er kann sich auch nicht mit Ausländern in der Öffentlichkeit zeigen, denn in der Hizbullah hat sich Paranoia breitgemacht. „Das ist vielleicht unser größtes Problem“, sagt er, als es darum geht, wie stark die Organisation vom israelischen Geheimdienst durchdrungen worden ist. „Nach dem Krieg werden viele Leute bestraft werden, weil sie dem Widerstand in den Rücken gefallen sind“, sagt der Kommandeur. „Aber jetzt geht das nicht. Wir können nicht wahllos Verdächtige festnehmen. Wir müssen uns schon sehr sicher sein.“ Sonst würde das die Moral und den Zusammenhalt untergraben.
Es scheint schon jetzt Frust zu herrschen in der straff geführten Kaderorganisation, die weite Teile der Führung in diesem Krieg verloren hat, allen voran ihren charismatischen Anführer Hassan Nasrallah. Die iranischen Hauptsponsoren haben das Vakuum zum Teil gefüllt. Der Hizbullah-Kommandeur bestätigt Berichte aus Sicherheitsbehörden, laut denen hohe Offiziere der iranischen Revolutionswächter jetzt in strategischen Fragen mitentscheiden. Er sagt, die Führung in Teheran verhindere, dass die Hizbullah ihren Bestand präzise lenkbarer ballistischer Raketen nutze, um größeren Schaden in israelischen Städten anzurichten. „Eigentlich müssten wir Tel Aviv jeden Tag angreifen, so wie die Israelis Beirut angreifen. Aber Iran erlaubt es nicht.“
Auch den Kampf an der Grenze im Süden stellt er nicht als Hizbullah-Heldengeschichte dar. „Wir verlieren viele Männer“, sagt er und fügt auf Nachfrage an, es seien mitunter Dutzende am Tag. Die israelischen Streitkräfte dringen dort immer weiter vor und schaffen Fakten. Dörfer entlang der Grenze werden zerstört, zum Teil öffentlichkeitswirksam gesprengt. Und nicht nur Libanesen, sondern auch westliche Diplomaten sehen darin den Versuch, einen Korridor zu schaffen, aus dem die Bevölkerung ferngehalten wird. Dass in den Dörfern im Grenzgebiet auch Hizbullah-Mitglieder und ihre Familien wohnen, ist einer der Fallstricke für ein Arrangement. Als Kämpfer müsste sich dann mancher aus einer Gegend zurückziehen, in der er als Zivilist lebt. Und die Bevölkerung hängt sehr an ihrer Heimat, sie dürfte sich auch durch die Zerstörung kaum vertreiben lassen. Gerade über die Leute im Süden sagt man, sie seien eng mit ihrem Land verbunden.
Noch immer kommen täglich Kriegsvertriebene in ihre Büros
In der Küstenstadt Saida, etwa 60 Kilometer von der israelisch-libanesischen Grenze entfernt, liefert eine Runde von Männern Zeugnis davon ab. Saida ist Frontstadt, die Regionen im Süden hat Israel zur Kampfzone erklärt. Die Männer stammen aus Yarine, einem kleinen Dorf direkt an der Grenze. Jetzt leben auch sie in einer Schule. Gestenreich berichten sie, dass ihre Häuser dem Erdboden gleichgemacht wurden. Und energisch stimmen sie zu, als einer sagt: „Ich gehe zurück. Und wenn ich kein Geld für den Wiederaufbau bekomme, dann stelle ich ein Zelt auf den Trümmern meines Hauses auf und baue es nach und nach wieder auf.“ Doch er glaubt, wie auch die anderen, nicht so recht daran, dass der Krieg bald endet.
Und so klingen die Vertreter der Verwaltung von Saida genauso wie der Bürgermeister von Deir al-Ahmar. Noch immer kommen täglich Kriegsvertriebene in ihre Büros, währen die Kraft der Stadt und ihrer Einwohner schwindet. Manche wurden durch Gewalt vertrieben, manchen ist das Geld für die Miete einer eigenen Bleibe ausgegangen. „Wir können das hier nicht mehr lange durchhalten“, sagt Wafa Sheaib, die im Krisenzentrum von Saida arbeitet. Sie fürchtet auch, dass es neue Spannungen geben kann, wenn der Krieg vorbei ist und ihre Landsleute den derzeitigen Überlebensmodus im Angesicht eines äußeren Feindes zu verlassen. „Gerade haben wir den alten Alltag vergessen, das politische Vakuum, die Krise, die Spaltungen“, sagt sie. „Aber wenn der Krieg mit Israel vorbei ist, dann könnten die Probleme erst richtig anfangen. Die Stimmung wird bestimmt aggressiver, wenn es mit den gegenseitigen Schuldzuweisungen losgeht.“
In Deir al-Ahmar, dem christlichen Dorf in der Bekaa-Ebene, herrscht neben der Solidarität mit den schiitischen Nachbarn auch große Frustration darüber, dass Libanon in einen Krieg hineingezogen wurde, über den sie nicht zu entscheiden hatten. Bürgermeister Natif Kuzah weiß um die Empfindlichkeiten. „Fang jetzt nicht mit der Politik an“, sagt er seinem Stellvertreter, als dieser im Begriff ist, sich in Rage zu reden. Aber die Politik lässt sich nicht ausblenden. Die Christen im Ort müssen darauf achten, dass sich die Hizbullah-Kader fernhalten, und nicht bei ihren geflohenen Familien unterkriechen, damit der Ort nicht auch zum Ziel wird. Manche der schiitischen Gäste sagen, die Leute achteten, schon zum Selbstschutz, darauf.
Es bleibt aber ein Rest Misstrauen, und nicht alle Vertriebenen zeigen sich zerknirscht darüber, dass die Hizbullah diesen zerstörerischen Konflikt begonnen hat. „Sie sagen, und würde die Hizbullah nicht Israel bekämpfen, dann wären wir auch nicht mehr hier“, sagt eine Studentin aus Deir al-Ahmar, die jetzt als freiwillige Ersthelferin arbeitet. „Natürlich glaube ich ihnen nicht. Und natürlich bin ich wütend.“ Noch hat sie trotz aller Härten Hoffnung, dass es irgendwann endet. Wenn auch die geschwunden ist, will sie ihre Sachen packen.