Atapuerca (Spanien) – Forscher enthüllen verstörende Seite der Urgeschichte | ABC-Z

Berlin. Archäologen stoßen in Atapuerca auf Spuren, die das Bild vom frühen Menschen dunkler zeichnen, als viele bisher glaubten.
Kannibalismus ist in heutigen Gesellschaften ein universelles Tabu. Doch ein Blick in die Tiefen der Menschheitsgeschichte zeigt: Unsere frühen Vorfahren hatten offenbar eine weitaus pragmatischere Einstellung zum Menschenfleisch. Knochenfunde mit Schnittmarken und Bissspuren belegen, dass Frühmenschen wie der Neandertaler – und noch ältere Spezies – nicht davor zurückschreckten, Artgenossen zu essen. Besonders häufig scheinen solche Praktiken beim Homo antecessor vorgekommen zu sein.
Diese Frühmenschenart lebte vor rund 800.000 Jahren im heutigen Spanien und gilt als möglicher Vorfahre sowohl des Homo heidelbergensis als auch des modernen Menschen. Doch vieles an dieser Spezies ist bis heute umstritten, darunter ihre Beziehung zu anderen Frühmenschen und ihre kulturellen Fähigkeiten.
Was nun allerdings immer klarer wird: Homo antecessor war offenbar ein systematischer Kannibale. An der berühmten Fundstätte Gran Dolina in Atapuerca verdichten sich die Hinweise: Menschliche Überreste mit Schnittkerben, gebrochene Knochen zur Markgewinnung und sogar enthauptete Schädel zeigen, dass hier nicht nur Tiere zerlegt wurden.
Homo antecessor: Ein Kannibale unter den Urmenschen
Bereits 1996 veröffentlichten Forscher erste Studien zum Kannibalismus der Frühmenschen in Atapuerca. Nun liefert ein neuer Fund zusätzliche Details. Archäologen unter der Leitung von Palmira Saladié vom spanischen Institut für menschliche Paläoökologie und Evolution (IPHES) fanden in der Gran-Dolina-Höhle die Überreste von zehn weiteren Individuen – alle zugehörig zur Spezies Homo antecessor.
Die Knochen sind über 850.000 Jahre alt und weisen eindeutige Spuren auf: Schnittmarken, Bissspuren, zertrümmerte Markknochen. Es sind Spuren von gezielter Bearbeitung – nicht durch Tiere, sondern durch andere Menschen. Die Ergebnisse dieser Untersuchung wurden kürzlich im Fachjournal „ScienceDirect“ veröffentlicht und bestätigen eindrucksvoll, wie systematisch Kannibalismus bei diesen frühen Menschen offenbar betrieben wurde.
Kinder als Opfer: Enthauptet und entfleischt
Besonders makaber: Unter den Skeletten befand sich auch das eines kleinen Kindes, gerade einmal zwei bis fünf Jahre alt. Auch an diesem Körper zeigen sich Spuren von Kannibalismus. „Dieser Fall ist wirklich bemerkenswert, wegen des Alters des Kindes – aber auch wegen der Präzision der Schnittspuren“, so Saladié.
Die Knochen zeigten nicht nur allgemeine Spuren von Fleischentfernung, sondern auch präzise gesetzte Schnitte an den Halswirbeln, exakt an den anatomischen Stellen, die man auch bei der fachgerechten Enthauptung von Tieren wählt. Für Saladié ist die Aussage klar: Das Kind wurde systematisch getötet und entfleischt – vermutlich, um gegessen zu werden. „Dies ist ein direkter Beleg dafür, dass dieses Frühmenschenkind wie jede andere Beute verarbeitet wurde“, sagt sie.
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Gran Dolina Atapuerca: Systematischer Kannibalismus vor 850.000 Jahren
Die Funde zeigen auch: Es handelt sich nicht um einen Einzelfall. Die Forscher schätzen, dass in den bisherigen Funden aus der Gran-Dolina-Höhle rund ein Drittel der Skelette Spuren von Kannibalismus aufweisen. Das legt nahe, dass der Verzehr von Artgenossen bei Homo antecessor kein einmaliges Verhalten war, sondern wiederholt vorkam – womöglich war er Teil einer etablierten Praxis.
„Was wir hier dokumentieren, ist auch die Kontinuität dieses kannibalischen Verhaltens: Diese Behandlung der Toten war keine Ausnahme, sondern geschah wiederholt“, sagt Saladié.
Ausgrabungen in der Fundschicht TD6 der Gran Dolina (Sierra de Atapuerca, Spanien). Die dort entdeckten Überreste gelten als die frühesten Hinweise auf Kannibalismus in der Menschheitsgeschichte.
© Maria D. Guillén / IPHES-CERCA | Maria D. Guillén / IPHES-CERCA
Warum wurden Artgenossen gegessen? Hunger, Krieg oder Ritual?
Warum griffen Frühmenschen zu dieser extremen Maßnahme? Die Archäologie kann Indizien liefern, aber keine abschließenden Motive. Eine naheliegende Erklärung ist Not: Mangelernährung, saisonale Nahrungsknappheit, vielleicht lange Winter oder unerwartete Dürrezeiten. In solchen Situationen könnte das Fleisch der eigenen Spezies eine letzte Ressource gewesen sein.
Doch Saladié nennt eine zweite Möglichkeit: Kannibalismus als Mittel der Machtdemonstration – insbesondere in Konflikten um Territorien. Demnach könnte das getötete Kind einem rivalisierenden Stamm angehört haben und wurde nicht nur getötet, sondern öffentlich verspeist, um die Überlegenheit der eigenen Gruppe zu zeigen.
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Beide Erklärungen – Hunger oder ritualisierte Gewalt – sind nicht zwingend gegensätzlich. Möglicherweise war der Kannibalismus beim Homo antecessor ein mehrdimensionales Verhalten, das biologisches Überleben und soziale Kontrolle zugleich diente.
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Archäologische Forschung in Atapuerca: Neue Funde, neue Fragen
Die Ausgrabungen in der Gran-Dolina-Höhle dauern an – und sie liefern fast jährlich neue Erkenntnisse. Laut den Forschenden ist die Fundschicht noch längst nicht ausgeschöpft. Saladié sagt: „Jedes Jahr entdecken wir hier neue Funde, die uns zwingen, unsere Vorstellungen davon zu revidieren, wie diese Frühmenschen lebten, starben und wie sie ihre Toten vor fast einer Million Jahren behandelten.“