Asylpolitik: Im Migrationsdilemma | ZEIT ONLINE | ABC-Z

Erinnert sich jemand an die Maut? Die
CSU wollte einst von ausländischen Autofahrern ein Entgelt für die Benutzung
deutscher Straßen verlangen. Doch das verstieß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz
im europäischen Recht. Um den Zielkonflikt aufzulösen, ersann man ein
kompliziertes Verfahren, das schließlich vor dem Europäischen Gerichtshof
scheiterte.
Bei der Migration steht die Regierung
vor einem ähnlichen Dilemma. Friedrich Merz hat im Wahlkampf versprochen, Asylsuchende an den deutschen Grenzen vom ersten Tag seiner Amtszeit an
zurückzuweisen. Das ist aber europarechtlich zumindest problematisch, da
solche Zurückweisungen eigentlich nur unter bestimmten, strengen
Voraussetzungen erlaubt sind. Demnach ist der Staat für einen Asylantrag
zuständig, in dem ein Geflüchteter erstmals europäisches Hoheitsgebiet betreten
hat. Um herauszufinden, welcher das ist, muss die Person nach gängiger
Rechtsauffassung aber erst einmal einreisen dürfen (eine Rücküberstellung
erfolgt dann gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt).
Gleichzeitig hat Kanzler und CDU-Chef Merz aber einen
“Neustart für Europa” versprochen. Es ist eines der zentralen Projekte seiner
Amtszeit, eine gemeinsame europäische Antwort auf ökonomische und
sicherheitspolitische Herausforderungen zu geben. Deshalb ist der neue Kanzler
schon am Tag nach seiner Vereidigung erst nach Warschau, Paris und nun nach Brüssel
gereist. Das Problem ist also: Europa stärken und Europarecht brechen – passt nicht so gut zusammen.
Im Koalitionsvertrag hat man versucht,
es durch die Formulierung aufzulösen, man werde Zurückweisungen “in Abstimmung”
mit den europäischen Nachbarn vornehmen. Die Verwirrung der vergangenen Tage ist auch darauf zurückzuführen, dass nicht ganz klar ist, was damit eigentlich
gemeint sein soll.
Innenminister Alexander Dobrindt
von der CSU schien den Passus eher scharf auszulegen, als er diese Woche verschärfte
Grenzkontrollen ankündigte und sich auf Artikel 72 des Vertrags der EU berief.
Dieser ermöglicht Ausnahmen vom geltenden Recht zur “Aufrechterhaltung
der öffentlichen Ordnung und dem Schutz der inneren Sicherheit”,
weshalb Dobrindts Vorstoß in der Berichterstattung über den Vorgang als
Ausrufung eines Notstands interpretiert wurde. Das wiederum sorgte innerhalb
der Koalition für Unruhe, da der Eindruck entstand, Dobrindt würde
unabgestimmt Fakten schaffen. Merz ließ daraufhin nach Gesprächen mit
Vizekanzler Lars Klingbeil (SPD) klarstellen, dass “kein nationaler Notstand”
ausgerufen worden sei.
Eine Notlage muss nicht offiziell ausgerufen werden
Tatsächlich ist die Lage
etwas komplizierter. Rechtlich betrachtet muss eine Notlage nicht offiziell
ausgerufen werden. Die Regierung muss die verschärften Grenzkontrollen nur gegenüber
der Kommission ankündigen und mit einer Bedrohung der inneren Sicherheit
begründen. Diese Bedrohung hat die Koalition am Mittwoch intern festgestellt.
Sie argumentiert dabei mit der Überlastung von Kommunen und Sozialsystemen.
Ob die Begründung dann den
Anforderungen genügt, muss am Ende der Europäische Gerichtshof feststellen,
sofern er mit der Sache befasst wird. Dazu käme es zum Beispiel, wenn die
Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einleiten sollte. Doch
gibt es hier – wie in Brüssel betont wird – keinen Automatismus. Ein
möglicher Auslöser für ein solches Verfahren wären zum Beispiel schwerwiegende
Störungen des Grenzverkehrs durch die deutschen Maßnahmen.
Mit anderen Worten: Wenn
die Bundesregierung bei ihren Kontrollen und Zurückweisungen behutsam vorgeht
und größere Streitigkeiten mit den Anrainerstaaten vermeiden kann, dann würde
die Kommission möglicherweise erst einmal kein Verfahren (das ohnehin einige
Zeit dauern würde) gegen die Bundesregierung anstrengen. Und: Schon bald sollen
die verschärften europäischen Asylregeln in Kraft treten, die den Schutz der Außengrenzen
verstärken, wodurch die Binnengrenzen entlastet werden.
Merz könnte also, wenn
alles gut geht, den Zeitraum bis zum Inkrafttreten dieser Regeln überbrücken. Die
Asylzahlen sind in den vergangenen Monaten ohnehin bereits dramatisch gesunken,
weil schon die Ampel die Grenzkontrollen verschärft hatte. Dieses
Überbrückungsszenario wäre auch aus Sicht der SPD unproblematisch. Die
Sozialdemokraten haben schließlich kein Problem mit einem strengeren
Grenzschutz, sie wollen nur eine europolitische Eskalation verhindern.
Es würde Merz helfen – und
das ist der politische Kern der Auseinandersetzung – wenn die Regierung auf
markige Sprüche verzichtete, die in Brüssel und den anderen Hauptstädten den
Eindruck eines unilateralen deutschen Vorgehens erwecken. Genau solche Sprüche
werden allerdings in Teilen der Koalition als hilfreich in der
Auseinandersetzung mit der AfD empfunden.
Dieses
Auseinanderklaffen von innenpolitischer und außenpolitischer Rationalität
erklärt auch, weshalb die Angelegenheit so verworren ist. Merz wird es nun vor allem darum gehen, kommunikative Disziplin zu wahren. Denn um
ideologische Differenzen geht es ohnehin nicht mehr: Inzwischen wollen fast
alle europäischen Staaten die Migration begrenzen.