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Mit der MS Fram auf Kreuzfahrt rund um Spitzbergen | ABC-Z

Plötzlich ist es auch hier oben auf Deck zu hören. Knacken und Glucksen breiten sich über dem Wasser aus. Entlang des Schiffes sind Eisplättchen unterwegs: durchsichtig, in unterschiedlichen Größen und Formen, vielleicht mehrere hundert Jahre alt. Kurz vor der Wiedervereinigung mit dem Meer, aus dessen Feuchtigkeit sie einst als Schnee entstanden, haben sie sich noch allerhand zuzuflüstern. Eis in jeglicher Gestalt wird uns auf der Fahrt mit der MS Fram rund um Spitzbergen begleiten, nachdem wir zunächst zwei sommerliche Tage in Norwegens Hauptstadt Oslo verbringen.

Moderne Architektur prägt das Stadtbild am Hafen. Optisch herausragend ist das Museum MUNCH, eröffnet im Oktober 2020. Edward Munch, Norwegens berühmtester Maler, hatte bei seinem Tod keine Erben und vermachte Oslo all seine Werke. Von hier aus zu Fuß oder mit der Tram gut erreichbar ist der Ekebergparken. Mit einer Kombination aus Historie, Natur, Aussichtspunkten und Skulpturen vermitteln dort international anerkannte Künstler Einblick in Oslos Geschichte.

Ob mit Straßenbahn, Bus oder der sogenannten T-Bahn, Nahverkehr ist in Oslo bestens organisiert. Es ist Wochenende, und nicht nur Touristen strömen zum Frogner Park, mit den Skulpturen des berühmten Steinbildhauers Gustav Vigeland. Familien haben es sich auf der Wiese bequem gemacht, picknicken oder genießen einfach ein Sonnenbad. Beeindruckend sind sie immer wieder, diese in Stein gemeißelten Menschenfiguren. Insgesamt 212 Plastiken aus Bronze, Granit und Gusseisen zeigen in einfachen, aber sehr eindrücklichen Darstellungen den Weg von der Geburt bis zu seinem Ende.

Früh am Morgen startet der Flug nach Spitzbergens Hauptstadt ­Longyearbyen. Bunte Häuser zwischen kargen, teilweise mit Schnee bedeckten Felsen tauchen beim Ankommen auf. Mit Lebensmittelmarkt, Krankenhaus, Kindergarten, Schule und Kirche ist der überschaubare Ort gut ausgestattet. Es gibt mehrere Schneemobile pro Kopf bei 2500 Einwohnern. Jetzt parken sie auf Wiesen zwischen Häuserreihen. Zwei Museen zeigen auf, welche Rolle dieser Außenposten bei der Arktis-Erforschung hatte. Unterwegs im Umland sind noch viele Relikte aus der Zeit des Kohleabbaus zu sehen. Am nächsten Tag beziehen wir unsere Kabine auf der MS Fram von Hurtigruten Expeditions, kurz HX, das bereits vor Anker liegt.

Erste Anlandung in Ny-Ålesund, zweitgrößte Stadt der Inselgruppe Svalbard (kalte Küste) deren Hauptinsel Spitzbergen ist. „Hier befindet sich die chinesische Wissenschafts-Abteilung“, erklärt uns Enzo beim Rundgang. Wissenschaftler unterschiedlicher Nationalitäten kommen hier zusammen, um gemeinsam Forschung zu betreiben. Auch diese Siedlung hatte ihre Blütezeit während der Kohlegewinnung. Ein kleines, aber äußerst ansprechendes Museum schildert anschaulich den Alltag der Bergleute.

„Nicht zu nah an das Nest.“ Als die Seeschwalbe zum Angriff übergeht, verstehen wir Enzos Warnung. Natürlich ist der anmutige Vogel nicht gefährlich. Er verteidigt schließlich nur sein Gelege neben dem Weg. Enzo ist Vogelexperte auf der MS Fram. Auch weidende Rentiere ergreifen die Flucht.

Bei der Weiterfahrt in ruhigem Wasser tauchen wir immer mehr in die arktische Lebenswelt ein: karge Berge, mächtige Gletscher, Einsamkeit. Dann eine lang erwartete Nachricht: Eisbär zu sehen. Mit Fernglas gut sichtbar räkelt sich das kräftige Exemplar auf einem Schneefeld in Wassernähe. Später lernen wir, dass sie sich auf diese Weise der Salzkristalle entledigen, welche im Fell hängen bleiben. Eisbär in Sicht – keine Anlandung! So die Vorsichtsmaßnahme. Sonst erkunden Eisbären-Wächter mit Gewehr die Umgebung, um jegliche Konfrontation zu vermeiden. Etwas über 3000 der mächtigen Tiere sind auf und zwischen den Inseln Svalbards unterwegs.

In dieser unerforschten Eis- und Bergwelt sind wir die einzigen menschlichen Lebewesen. Weiter geht es, bis das Packeis Umkehr erfordert. „Heute Nacht müsst ihr lang wach bleiben. Schließlich seid ihr nicht im Urlaub, sondern auf Expedition“, scherzt Tomski, der Expeditionsleiter. Zahlreiche Walrosse lagern auf der lang gezogenen Insel Moffen eng nebeneinander. Zwei dieser Kolosse beäugen vom Wasser aus neugierig das Schiff. Inzwischen sind wir schon nördlich des 80. Breitengrades angelangt.

Das Zodiac-Boot landet mit Schwung am Ufer. Nach wenigen Schritten durchs Wasser, gut geschützt von stabilen Gummistiefeln, erreichen wir einen Sandstrand: Chermsideøya. Aus Russland herangetriebene Holzstämme lagern oberhalb des Wassers. Dazwischen riesige Felsblöcke unterschiedlichen Gesteins, eine Berglandschaft getaucht in das Licht der hochstehenden Nachmittagssonne.

„Wissenschaftsboot F an Deck 2“, tönt es aus dem Lautsprecher. Wir machen uns fertig für eine „Kreuzfahrt“ anderer Art: warme Unterwäsche, Regenhose, Wollpullover, Daunenjacke, Regenschutz, Mütze, Handschuhe, Gummistiefel, Rettungsweste nicht vergessen. Außentemperatur etwa ein Grad, Wind mäßig. Bootsführerin Vivian entnimmt Wasserproben, um zu sehen, was sich darin alles tummelt. Zum Expeditionsteam gehörend, ist sie vielseitig ausgebildet. In einer Ecke des Bootes liegt das Gewehr, sollte sich ein Eisbär nähern.

Tatsächlich zeigen sich tags darauf in den entnommenen Wasserproben unter dem Mikroskop Plankton, frühe Entwicklungsstadien von Seepocken und andere utopisch anmutende zappelnde Wesen. Auf einem großen Bildschirm wird sichtbar, was das bloße Auge nicht wahrgenommen hätte.

Wissenschaftlerin Dr. Laurin Mc Whinnie von der Heriot Watt Universität in Schottland hat sich eine andere Aufgabe vorgenommen. „Auf dieser Fahrt untersuchen wir mit Hydrophonen, welcher Lärm von Passagierschiffen ausgeht und wie er sich auf die Tierwelt unter Wasser auswirkt.“ Sie und ihre Kollegin teilen die Ergebnisse mit anderen Forschern. Ist es so möglich, Beeinträchtigungen zu vermeiden oder wenigstens zu verringern? Etwa durch eine andere Form von Schiffsschrauben, und geräuschärmeren Motoren? Beide unterhalten sich nach dem Referat angeregt mit Reisegästen.

Das inzwischen stürmische Meer hat sich etwas beruhigt, der Nebel gelichtet. Längst haben wir den östlichsten Punkt, die Insel Kvitøya nahe dem 81. Breitengrad, umrundet. Wir fahren entlang der Ostküste gen Süden. In Sundneset ist Anlandung. Was für ein Unterschied zu den letzten Inselbesuchen: weiche Moospolster und Sumpflandschaft wechseln sich mit steinigem Untergrund und gewaltigen Gesteinsbrocken ab. Winzige Blüten und Flechten haben dem kargen Boden Leben abgerungen. Hinterlassene Tierlosung zeigt, hier ist einiges unterwegs. Rentiere weiden in der Ebene. Ihre abgeworfenen Geweihe liegen gebleicht im Gelände. Auf Süßwasser-Seen schwimmen zahlreiche Entenarten und Gänse. Auch die seltene Schneeammer wagt sich neugierig in unsere Nähe. Am Berghang zieht ein Polarfuchs vorbei. Zurück auf der MS Fram genießen wir das Sonnenlicht über den uns umgebenden Schneebergen. Es wird nicht viel gesprochen, alle sind sich dieser mythischen Momente bewusst. Noch ein paar Tage, dann bringt uns von Longyearbyen ein Flugzeug zurück in den Alltag. Manche Aufregung zu Hause wird uns unverständlich erscheinen, nach einer Fahrt, in der Wetter und Natur beim nördlichen Ende der Welt den Tagesablauf bestimmten – beim Flüstern des Eises.

Die Recherche wurde von HX unterstützt.

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