Argerich und Kissin beim Klavierfestival in Luzern | ABC-Z
Konkurrenz belebt das Geschäft. Pünktlich zum Beginn der vierten Ausgabe des Festivals „Le Piano Symphonique“ veröffentlichte das alteingesessene Lucerne Festival die Ergebnisse einer Studie, die mit imposanten Zahlen zu seiner wirtschaftlichen und kulturellen Bedeutung aufwartet, und tat unmissverständlich kund, wer hier der Platzhirsch ist. Es geht aber nicht um einen Verdrängungswettbewerb, sondern um die friedliche Koexistenz zweier internationaler Klassikfestivals, die sich konzeptionell grundsätzlich unterscheiden. Das bietet dem Publikum eine Wahlmöglichkeit und motiviert die Veranstalter zur Schärfung ihres Profils.
Unterschiedlich ist auch die aktuelle Ausgangslage. Das Lucerne Festival erlebte im letzten Vierteljahrhundert unter dem Intendanten Michael Haefliger einen einzigartigen Höhenflug. Nach Haefligers Abschied in diesem Jahr wird es sich aber in einigen Punkten neu erfinden müssen. Nicht schaden könnte eine kritische Überprüfung der in jüngster Zeit unternommenen Versuche, durch Anpassung an den volatilen Zeitgeist ein jüngeres Publikum zu erreichen. Und bei der 2004 von Pierre Boulez gegründeten und von Wolfgang Rihm weitergeführten Lucerne Festival Academy droht die Gefahr, dass sie nach Rihms Tod unmerklich ins Einerlei des Neue-Musik-Betriebs hineinschlittert.
Sehr tragfähige Festivalidee
Das Festival „Le Piano Symphonique“ hat hingegen alle Vorteile eines noch jungen Unternehmens. Sein Gründer und Leiter Numa Bischof Ullmann, auch Intendant des Luzerner Sinfonieorchesters, setzt sein Festivalthema in künstlerisch hochwertige, publikumswirksame Konzertprogramme um. In der Idee des „symphonischen Klaviers“ – das Klavier als Kernstück mit seinen Erweiterungen in Form von Kammermusik und Konzerten mit Orchester – kann sich der universelle Charakter des Tasteninstruments in allen Facetten manifestieren. Vor allem aber findet er die Interpreten, die seine Begeisterung für die Sache teilen und ihre Ideen einbringen.
Allen voran ist das Martha Argerich, die „Pianiste Associée“ des Festivals. Ihre Anwesenheit war selbst dann spürbar, wenn sie gar nicht auftrat. Wegen einer noch nicht auskurierten Grippe stand ihre aktive Mitwirkung auf Messers Schneide, was auch zu zwei Programmänderungen führte. Mit ihrem Gedanken des Miteinanders brachte sie die Musiker zu einer großen Familie zusammen, was nun auch ganz wörtlich zu verstehen war: Mit der Filmemacherin Stéphanie Argerich, die zum Auftritt des Pianisten Stephen Kovacevich, ihres Vaters, einen Film über ihn zeigte, mit der Schauspielerin Annie Dutoit-Argerich als gewitzter Sprecherin und ihrem Enkel David Chen als zweitem Pianisten in „Le Carnaval des animaux“ von Camille Saint-Saëns war Mutter Marthas weitverzweigte Nachkommenschaft optimal vertreten.
Das bedeutete keineswegs Exklusivität. Im „Carnaval“, der in einem Kinderkonzert wiederholt wurde, stammten die Instrumentalsolisten aus dem Luzerner Sinfonieorchester, das damit Teil der großen Familie wurde – Programmdramaturgie vom Feinsten. Das wiederholte sich im Schlusskonzert, in dem Argerich in alter Frische des erste Klavierkonzert von Beethoven spielte. Das vom Konzertmeister Gregory Ahss geleitete Orchester wurde von ihr beim Schlussapplaus demonstrativ einbezogen. Familienbande demonstrierte schließlich auch die mit Argerich befreundete Pianistin Lilya Zilberstein, die mit ihren Söhnen Anton und Daniel Gerzenberg, beides hervorragende Pianisten, nebst solistischen Auftritten auch vier- und sechshändig spielte. Die vertraute Kommunikation der Musiker untereinander schuf beim Publikum ein Gefühl der Nähe zum kreativen Akt des Musizierens, wie es allenfalls bei Kammermusikfestivals zu erleben ist.
In die abendfüllenden Konzerte ging man um sieben Uhr hinein und kam gegen elf als anderer Mensch wieder heraus, etwa nach dem langen Mendelssohn-Abend mit Beatrice Rana und ihrem schwerelos dahinfliegenden Klavierspiel, aber auch nach dem Konzert mit dem gerade mal zwanzigjährigen Koreaner Yunchan Lim. Das zweite Klavierkonzert von Rachmaninow spielte er mit einer bemerkenswerten Sensibilität für die poetischen Aspekte, einfühlsam begleitet vom Luzerner Sinfonieorchester unter seinem Chef Michael Sanderling, und nach der Pause demonstrierte er seine hohe Musikalität an Tschaikowskys Zyklus „Die Jahreszeiten“.
Der Abend endete mit einem denkwürdigen Auftritt: „Martha Argerich & Friends“. Eine gesundheitlich geschwächte Pianistin, der von einer langen Krankheit genesene Cellist Mischa Maisky und die mit beiden Beinen im Leben stehende Geigerin Janine Jansen schlugen das Publikum in Bann. Es begann mit der vollendeten Wiedergabe eines Klaviertrios von Haydn und endete mit Schuberts Lied „Du bist die Ruh‘“, arrangiert von Maisky. Unfassbar sublim! Eine Musik, angesiedelt irgendwo zwischen Himmel und Erde. Und große Betroffenheit im Saal. Hier erlebte man, was Lady Annabelle Weidenfeld, als Konzertmanagerin jahrzehntelang an der Seite von Künstlern wie Artur Rubinstein und Menahem Pressler, in einem Gespräch mit dem Intendanten Bischof Ullmann behauptete: Dass ein großer Künstler beim Musizieren seine Seele zeige.
Einen dunkel gefärbten Schwerpunkt des Programms bildete das zweiteilige „Schostakowitsch-Projekt“, kuratiert und am Klavier mitgestaltet von Jewgeni Kissin. Unter anderem erklangen drei Streichersonaten, davon zwei Spätwerke – düstere, zu kargen Klangfigurationen geschrumpfte Signale aus den Katakomben des Sozialismus. Ein konzertantes Wagnis, das ohne erstklassige Interpreten schiefgehen könnte, doch Gautier Capuçon, Gidon Kremer und Maxim Rysanow führten es zusammen mit Kissin zum Erfolg.