Argentinien: Wie Milei mit radikalen Reformen den Staat umbaut | ABC-Z

Argentiniens Präsident Javier Milei hat diverse Ministerien abgeschafft. Doch eines hat er neu erschaffen: das Ministerium für staatliche Deregulierung und Transformation, dessen Aufgabe es ist, die Struktur des Staates zu vereinfachen und die Kosten des Staates zu reduzieren. Geführt wird es von Federico Sturzenegger. In seinem Büro zeigt der Deregulierungsminister zwei große Papierstapel. Das seien die Gesetze und Abkommen, die die Regierung abschaffen oder reformieren müsse, sagt der 59 Jahre alte Ökonom mit Schweizer Wurzeln.
Schon zwei Jahre vor Mileis Wahl hatte Sturzenegger sich gemeinsam mit einem Team von Ökonomen und Juristen durch Tausende von Gesetzen und Abkommen gearbeitet, um einen Plan für eine umfassende Deregulierung des Staates zu schmieden. Sturzenegger hatte auf einen Regierungswechsel bei der Wahl 2023 gesetzt, jedoch nicht auf einen Sieg Mileis.
Dieser schloss den einstigen Zentralbankchef rasch in sein Herz und machte ihn im Juli 2024 zum Chef des neuen Ministeriums. Auch Milei ist in Sturzeneggers Büro präsent. Auf einer Fensterbank steht eine kleine Plastikfigur des Präsidenten mit einer Kettensäge in den Händen. Die Kettensäge hängt nach unten. „So ist es besser“, sagt Sturzenegger und richtet die Säge wieder nach oben.
Herr Sturzenegger, die Kettensäge ist das Symbol dieser Regierung. Was drückt sie für Sie persönlich aus?
Die Kettensäge symbolisiert für mich die Möglichkeit, zwölf Millionen Argentinier aus der Armut zu befreien. Sie symbolisiert die Kürzung der öffentlichen Ausgaben. Jeder Peso, den die Regierung ausgibt, ist eine Steuer. Man deckt die Ausgaben mit Steuern oder mit der Ausgabe neuen Geldes, was die Inflation antreibt. Den Preis bezahlen in beiden Fällen die Bürger. Unsere Regierung hat die öffentlichen Ausgaben im ersten Jahr um fünf Prozentpunkte des Bruttoinlandprodukts gesenkt. Das Wichtigste war die Inflation. Die monatliche Inflation ist von 25 auf weniger als zwei Prozent gesunken. Weil die Ärmsten am meisten unter der Inflation leiden, konnten wir die Armut senken.
Hat die Kettensäge ihre Arbeit getan?
Wir haben noch einen interessanten Weg vor uns. Wir haben zum Beispiel festgestellt, dass die Regierung viele Aufgaben übernimmt, die sich mit denen der Provinzen überschneiden. Wir sind der Ansicht, dass die Mehrzahl der staatlichen Aufgaben wie Bildung, Gesundheit oder Justiz von den Provinzen übernommen werden sollte. Wir nennen das die Theorie der Pflaumenschale. Die Pflaume wird von einer Haut zusammengehalten, die sehr dünn ist. Wir sehen die Zentralregierung als diese dünne Haut.
Und diese Haut wollen Sie weiter ausdünnen.
Wir müssen die Regulierungen Schritt für Schritt vereinfachen und abbauen. Ein schönes Beispiel dafür, wie die Kettensäge mit der Deregulierung zusammenhängt, ist das Satelliteninternet. Als wir an die Regierung kamen, war das verboten. Und das lag nicht daran, dass das Internet schlecht ist, sondern daran, dass es schlecht für die Internetanbieter war. Diese hatten Lobbyarbeit betrieben, um die Konkurrenz fernzuhalten. Als wir die Regierung übernahmen, ließen wir Satelliteninternet zu. Der Anbieter Starlink gewann innerhalb weniger Wochen 250.000 Kunden. Wir gaben dafür keinen Cent aus, während die Vorgängerregierung Milliarden verschleudert hatte, um ein Unternehmen aufzubauen, das Glasfaserverbindungen bereitstellte. Die Deregulierung hat dem Verbraucher in diesem Fall Zugang zu Gütern verschafft, die vom Markt angeboten werden, ohne dass dem Staat dadurch Kosten entstehen.
Nicht in allen Bereichen füllt der Markt diese Lücke so einfach aus. Die Regierung hat beispielsweise alle öffentlichen Bauprojekte auf Eis gelegt. Das schadet der öffentlichen Infrastruktur.
Einerseits ist die Infrastruktur zu einem großen Teil die Aufgabe der Provinzen. Andererseits kann auch die Infrastruktur privat sein. Unsere Idee ist es, die großen Infrastrukturprojekte an den Privatsektor zu vergeben, was viele Länder tun. Ein interessantes Beispiel ist der Schienenverkehr. In Argentinien haben wir zwei wichtige Eisenbahnkorridore, die einst von einer staatlichen Gesellschaft betrieben wurden, zur Konzession ausgeschrieben. Das Interesse ist groß, besonders im Bergbausektor. Dieser erfährt dank unserer Reformen gerade einen derartigen Schub, dass Bergbauunternehmen bereit sind, in die Infrastruktur des Landes zu investieren. Das zeigt, wie einzigartig der von Präsident Milei angestoßene Transformationsprozess ist. Bald werden wir eines der modernsten Schienennetze für den Güterverkehr haben, ohne dass der Staat dafür in die Kasse greifen muss.
Braucht es überhaupt noch einen Staat?
Das ist eine eher theoretische Frage. Die Anarchokapitalisten sagen, dass es keinen Staat braucht, dass alles bis hin zu Justiz und Sicherheit vom Privatsektor bereitgestellt werden sollte. Das ist eine extreme Vision. Ich sehe mich eher als Verfechter des Minimalstaats: Der Staat sollte so wenig wie möglich tun. Hier in Argentinien haben wir das Gegenteil, einen elefantenartigen Staat. Je tiefer ich in die Materie eindringe, desto klarer wird mir das. Es fällt mir schwer, Funktionen des Staates zu finden, die konstruktiv sind, die nicht von unnötiger Bürokratie und Dogmatismus erstickt werden. Bis zum Minimalstaat liegt also noch ein langer Weg vor uns. Diesem Ministerium wird die Arbeit so rasch nicht ausgehen.
Sie stellen die Deregulierung als ein Synonym von Freiheit dar. Viele Argentinier haben durch die Deregulierung und Sparpolitik einen Teil ihrer Kaufkraft, ihre Jobs und soziale Sicherheit verloren – und damit die wahre Freiheit, wie die Opposition argumentiert.
Das Modell des allgegenwärtigen Schutzstaates, der alle Probleme löst, wurde eingeführt, als Argentinien eines der reichsten Länder war, weil es frei war. In den Jahrzehnten danach sanken die Einkommen. Als Milei Präsident wurde, waren fast 50 Prozent der Argentinier und 70 Prozent der Kinder arm. In den zehn Jahren vor der Wahl Mileis haben zwei Millionen Argentinier das Land verlassen, weil sie keine Zukunft mehr sahen. Die Rezepte der Opposition haben also dazu geführt, dass die Argentinier ihre Kinder verlieren. Deshalb wollten sie eine Veränderung.
Um Perspektiven zu schaffen, braucht es Arbeitsplätze und Investitionen. Viele Investoren im Ausland zögern jedoch weiterhin. Als eines der großen Hindernisse werden die Devisen- und Wechselkurskontrollen genannt, die auch diese Regierung weiterhin nicht vollständig abbaut. Weshalb hält Milei an diesen Regulierungen fest?
Ich denke, dass Argentinien makroökonomisch ein sehr solides Fundament hat. Wir haben einen Haushaltsüberschuss, was ein absolut notwendiger Anker ist und woran der Präsident festhalten wird. Was die Wechselkurspolitik betrifft, haben wir heute ein breites Wechselkursband, das sich weiter ausdehnen wird. Der Präsident und sein Wirtschaftsteam haben beschlossen, dies schrittweise zu tun. Ich denke, das funktioniert sehr gut. Die Instabilität der vergangenen Wochen erklärt sich eindeutig durch den Wahlkampf für die Parlamentswahlen Ende Oktober. Ich sehe das als eine vorübergehende Sache.
Dennoch muss die Zentralbank Reserven einsetzen, um den Peso zu stützen. Vergangene Woche hat die amerikanische Regierung einem Währungsswap zugestimmt, um Argentinien unter die Arme zu greifen. Die Lage scheint ernst.
Argentinien hat einen Haushaltsüberschuss. Das können nur wenige Länder von sich behaupten. Wir haben also kein Problem mit der Schuldentragfähigkeit. Das aktuelle Problem ist politisch. Wir haben eine Opposition, die nicht nur destruktiv im Wahlprozess ist, sondern während ihrer Zeit an der Regierung gezeigt hat, dass sie die Schulden nicht begleicht. Die Vorstellung einer Rückkehr sorgt für Unsicherheit an den Märkten. Der Swap mit den Vereinigten Staaten schafft mehr Flexibilität in Bezug auf die Schulden und senkt das Risiko.
Sie leiteten von 2015 bis 2018 während der Regierung von Mauricio Macri die Zentralbank. Trotz Inflationszielen und hohen Zinssätzen geriet Argentinien damals in eine Währungskrise, was unter anderem zu Ihrem Rücktritt führte. Was haben Sie aus dieser Erfahrung gelernt?
Was ich gelernt habe, ist, dass die Ursache der Krise kein geldpolitisches Thema ist. Argentinien hat eine Machtstruktur, die Milei das Kastensystem nennt – ein Geflecht aus Gewerkschaften, Unternehmern und Politikern, die vom aufgeblähten Staat profitieren. Die Kaste setzt alle Hebel in Bewegung, um die alten Zustände wiederherzustellen. Auch Macri hatte Erfolg. Die Wirtschaft wuchs um 5 Prozent, die Inflation war unter Kontrolle, die Armut lag deutlich unter jener von heute, und Macri gewann 2017 die Zwischenwahlen deutlich. Dann begann die Kaste, seine Regierung zu destabilisieren. Um Argentinien vor Krisen zu schützen, muss diese Machtstruktur demontiert werden. Das ist das, was wir tun. Deshalb wird unsere Regierung jetzt vor den Zwischenwahlen angegriffen. Unsere Gegner haben erkannt, dass ein weiterer Sieg von Milei ihr Kastensystem in Gefahr bringt.
Wodurch unterscheidet sich diese Regierung von jener Macris?
Wir gehen tiefer. Wir fragen nicht, wie man etwas verbessern könnte, sondern ob etwas überhaupt existieren sollte. Es ist Zeitverschwendung, etwas zu verbessern, das eigentlich abgeschafft werden sollte. Das setzt eine Auseinandersetzung mit der Rolle des Staates voraus. Doch am Ende ist es produktiver, die Auswucherungen an der Wurzel zu packen anstatt sie nur zurückzuschneiden.
Die Regierung greift dabei oft auf Dekrete, Vetos und Notstandsmaßnahmen zurück und setzt sich so dem Vorwurf aus, den Kongress und den demokratischen Prozess zu umgehen.
Die Verwendung von Dekreten ist nichts Neues. Das haben alle Regierungen vor uns ebenfalls gemacht. Oft hatten die Peronisten gar Mehrheiten in beiden Kammern, während sie an der Regierung waren, und versuchten, in die Justiz einzugreifen. Damals sprach niemand von einer Gefahr für die Demokratie. Ich würde sogar sagen, dass die Prozesse heute viel demokratischer sind als früher. Wir regieren mit einer Minderheit. Der Kongress ist so unabhängig wie noch nie. Es gibt Auseinandersetzungen, ein Kampf um Mehrheiten. Das ist doch genau der Kern der Demokratie.
Ist es womöglich der Stil des Präsidenten, der viele irritiert. Milei ist aggressiv und greift selbst seine Verbündeten immer wieder an. Macht er sich das Leben selbst schwer?
Die Verfassung schreibt nicht vor, wie der Präsident zu sprechen hat. Der Präsident entscheidet, wie er spricht. Am Ende sind es die Wähler, die den Stil bewerten. Es gibt verschiedene Arten von Präsidenten. Milei zählt zu den kämpferischen Präsidenten, die sich als Teil eines kulturellen Wandels sehen und vermitteln wollen, dass die Dinge auch anders sein könnten. Er führt einen kulturellen Kampf. Dazu gehört, dass er seine Ideen verteidigt. Er führt seine Debatten öffentlich und lädt die Gesellschaft ein, daran teilzunehmen. Ich sehe daran nichts Verwerfliches. Ob Form und Stil korrekt sind, darüber kann jeder Wähler seine eigene Meinung haben.
Ihre Meinung werden die Wähler auch bei den Zwischenwahlen für das Parlament am 26. Oktober abgeben. Mileis Umfragewerte haben in den vergangenen Wochen gelitten. Wie gefährdet ist Ihr Reformkurs?
Die Destabilisierungskampagne unserer Gegner hat eine gewisse Verunsicherung ausgelöst. Doch Tatsache ist, dass wir vor vier Jahren lediglich zwei Sitze im Abgeordnetenhaus gewonnen haben, die wir nun verteidigen müssen. Mileis Partei „Die Freiheit schreitet voran“ wird nach den Wahlen also auf jeden Fall eine deutlich stärkere Vertretung im Parlament haben als jetzt. Wenn man bedenkt, dass wir schon vergangenes Jahr in der Lage waren, gemeinsam mit anderen politischen Kräften eine Reihe von Reformen durchzubringen, dürfte das noch einfacher werden. Deshalb gehen wir gelassen in die Wahlen und sind überzeugt, dass die Lage sich danach rasch wieder beruhigt.