Wohnen

Äquidistanz der Verachtung – Wissen | ABC-Z

Ratlose Wahlberechtigte wenden sich vertrauensvoll an den Wahlomat. Die von der Bundeszentrale für politische Bildung betriebene Entscheidungshilfe nimmt Unentschlossene an die Hand und hilft ihnen, eigene Positionen mit denen der zur Wahl stehenden Parteien abzugleichen. Am Ende spuckt der Wahlomat eine Empfehlung aus, und vermutlich wäre es nicht einmal die dümmste Idee, jener Partei die Stimme zu geben, mit der es inhaltlich die meisten Überschneidungen gibt, politische Loyalitäten hin oder her. An dieser Stelle grätschen jedoch die Affekte dazwischen. Der Wahlomat serviert nämlich gerne Empfehlungen, die schweres Unbehagen auslösen: Parteien, zu denen bisher gar keine gefühlte Nähe bestand, oder Vorschläge, welche die politische Grundorientierung komplett infrage stellen. Tja, und dann fällt die Wahlentscheidung doch wieder nicht auf Basis von Inhalten, sondern nach der guten alten Daumenregel vom kleinsten Übel.

Der US-Politikwissenschaftler Alan Abramowitz hat für dieses Verhalten den Begriff „Negative Partisanship“ geprägt, in etwa: negative Parteilichkeit. Eine Wahlentscheidung fällt demnach oft nicht, weil jemand einen Kandidaten unterstützt, sondern weil die Alternative dazu schlimme Aversionen auslöst. Eine Stimme für Donald Trump wäre demnach vor allem eine gegen Joe Biden – und umgekehrt. Gegenwärtig, so argumentieren nun die Sozialwissenschaftler Jonathan Hall und Sam Whitt im Journal of Behavioral and Experimental Economics, sei diese Form der Parteilichkeit Haupttreiber politischer Polarisierung in den USA und anderen Demokratien. Und die beiden Forscher teilen eine weitere Beobachtung: Wähler ohne politische Heimat verabscheuen zunehmend beide Seiten des politischen Spektrums. Links oder rechts, Trump oder Biden, Demokraten oder Republikaner – bei vielen Bürgern hat sich offenbar eine Äquidistanz der Verachtung eingestellt.

Für die aktuelle Studie ließen Hall und Whitt Probanden Varianten eines in der Forschung etablierten Spiels spielen, bei dem einer von zwei Beteiligten Geld zwischen beiden aufteilen muss. Der Haken ist, dass der Entscheider selbst weniger bekommt, wenn er dem anderen eins auswischen will – zum Beispiel, weil dieser Anhänger des politischen Gegenlagers ist. Die Forscher stellten fest, dass die stärkste Kraft hinter den Entscheidungen die Aversion vor politischen Gegnern war: Die Gegenseite zu bestrafen, war den meisten Teilnehmern wichtiger, als eigene Leute zu belohnen. Probanden ohne Lageridentität reagierten hingegen häufig mit Abscheu auf Mitspieler beider Lager: alle blöd, alles furchtbar.

Es geht nicht um Fakten, sondern um Gefühle

Zudem stellten Hall und Whitt fest, dass hinter den Entscheidungen Affekte statt Differenzen inhaltlicher Natur standen. Es ging nicht um Positionen, Fakten oder Programme, sondern um Gefühle: Als würden sich Fans zweier rivalisierender Mannschaften gegenseitig losgelöst von allen Vorgängen beschimpfen und das Trikot ihres Teams nur deshalb tragen, weil sie die Rivalen so irre blöd finden. Die neutralen Beobachter stehen derweil daneben und verachten das ganze Spektakel. Das ist keine frohe Botschaft, sondern: das Rezept für ein Drama.

Back to top button