Annalena Baerbock, erste Außenministerin: So viel Frau an Deutschlands Spitze gab es noch nie | ABC-Z

Annalena Baerbock will nach dem Ende ihrer Amtszeit aus der ersten Reihe der Politik zurücktreten. Die Grüne hat als Außenministerin Geschichte geschrieben – eine Geschichte, die einigen nicht gefallen hat. Weitere Kapitel könnten folgen.
„Ich habe noch lange nicht fertig“, sagt Annalena Baerbock Mitte Januar in einem Interview mit dem „Politico“-Podcast. Sieben Wochen später macht die amtierende Außenministerin ihren Rückzug aus der ersten Reihe der Politik öffentlich. Es ist das vorläufige Ende einer Reise, die damit beginnt, dass sich Baerbock vor vier Jahren anschickt, das Kanzleramt für die Grünen zu erobern. Das Vorhaben missglückt, aber Baerbock wird mit 40 Jahren die erste weibliche Chefdiplomatin der Bundesrepublik. Jede einzelne Woche seit Verkündung ihrer Spitzenkandidatur im Frühling 2021 vergeht wie im Flug. Oder auch im Flieger: Auf rund 200 Auslandsreisen kommt sie in ihrer verkürzten Amtszeit.
Es sind atemlose Jahre: Im Ausland toben Kriege, im Inland stolpert die Regierungskoalition von einer Krise zur nächsten. Von „Jahren auf Highspeed“ schreibt Baerbock in einem Brief an ihre Fraktion. Sie habe für „diese intensiven Jahre auch einen privaten Preis“ gezahlt. Mit diesem Preis begründet Baerbock ihre Entscheidung, „erst einmal einen Schritt aus dem grellen Scheinwerferlicht zu machen“. Ihre zwei Kinder hat sie wenig gesehen. Die Ehe mit dem Vater der Mädchen ist nach 17 Jahren zerbrochen. Und was Baerbock vielleicht auch als Preis ihres Spitzenpolitiker-Daseins versteht: Kaum ein Tag vergeht ohne Spott, Häme und Hass gegen ihre Person.
Mit Emotion und Empathie
Wer glaubt, die Abfälligkeiten im Internet müssten Politiker abkönnen, überschätzt deren Dickhäutigkeit. Das gilt erst recht für eine Gefühlspolitikerin wie Annalena Baerbock. Emotion und Empathie sind für Baerbock nicht nur Antrieb. Sie prägen auch die Art und Weise, wie sie das Amt ausfüllt. Mit Emotion und Empathie öffnet sie Türen, die ihren männlichen Vorgängern verschlossen blieben. Mit Emotion und Empathie begrenzt sich Baerbock aber auch unfreiwillig selbst; versperrt sich Wege, wo frühere Außenminister weiterkamen.
Emotion und Empathie sind auch Bürde, wenn man plötzlich verantwortlich ist für mehr als 13.000 Mitarbeiter des Auswärtigen Dienstes, von denen viele in heikler bis lebensgefährlicher Mission in fernen Ländern unterwegs sind. Kein Minister im Auswärtigen Amt hat das schneller erfahren als Annalena Baerbock. Kaum drei Monate im Amt ordnet sie am Abend des 23. Februar die Evakuierung der deutschen Botschaft in Kiew an. Während Russland in der folgenden Nacht seine Vollinvasion der Ukraine startet, kann Baerbock nur aus der Ferne machtlos mitverfolgen, wie sich ihre letzten Botschaftsmitarbeiter inmitten eines gigantischen Flüchtlingstrosses in Richtung Westen durchschlagen.
Sie ist in diesen Wochen merklich angefasst. Schlagartig hat ihre Amtszeit ein Thema größter historischer Tragweite: Der Krieg ist zurück in Europa. Neben der mentalen Herausforderung ist das für Baerbock auch eine emotionale. Das Leid der Menschen, ihre Angst sind für Baerbock keine abstrakte Größe, sondern gehen ihr nahe.
Bilder, die es vorher nicht gab
Baerbock ist nicht Deutschlands erste Spitzenpolitikerin, aber wenige haben so betont ihre Weiblichkeit eingebracht. Die von ihr ausgerufene „feministische Außenpolitik“ bietet ihren Widersachern immer wieder Angriffsfläche für Kritik. Dabei meinte das Konzept im Wesentlichen ja nur, dass keine Friedensordnung, keine Demokratie und auch keine nachhaltige Entwicklung von Dauer ist, solange die weibliche Hälfte einer Bevölkerung außen vor bleibt.
Männliche Kollegen, gerade aus der konservativen Opposition, sind zudem irritiert, wenn Baerbock in ihren Reden als Frau und Mutter argumentiert. Angela Merkel etwa hatte sich nach eigenen Angaben davor gefürchtet, ihr Frausein zu thematisieren – und begreift das heute als vielleicht größte Fehleinschätzung ihrer Kanzlerschaft. Baerbock dagegen arbeitet als Außenministerin offensiv an der Vernetzung von Frauen, etwa in Form gesonderter Gesprächsrunden weiblicher Außenministerinnen oder auch besonderer Aufmerksamkeit für die weiblichen Berichterstatter in ihrem Pressetross. Dass sie vorwiegend männliche Journalisten ins Ausland begleiten, entgeht ihr nicht.
Dass Baerbock mit ihrer Herangehensweise anders ist als ihre Vorgänger, zeigt sich schon im ersten Halbjahr ihrer Ministerinnenzeit. Als sie im April 2022 in den Niger reist, verbreiten sich Bilder ihrer Begegnung mit Marktfrauen rasant: Unprätentiös und auf Augenhöhe spricht die deutsche Top-Politikerin mit den Frauen. Sie schultert einen Balken, an dem Eimer hängen. So transportieren die Frauen in dem bitterarmen Sahelstaat ihre Marktware. Zugleich sind diese Bilder kein Zufall. Genauso wenig wie bei ihrem Besuch der vom steigenden Meeresstand bedrohten Pazifikinsel Palau. Barfuß und im grünen Kleid lässt sich Baerbock am paradiesischen Strand ablichten. Wer ihre Auslandsreisen begleitet, weiß von sorgsam inszenierten Auftritten zu berichten.
Nicht nur die Boulevardpresse fragt nach der Angemessenheit der Kosten, die das Auswärtige Amt für eigene Fotografen und eine Maskenbildnerin aufwendet. Was ist Selbstinszenierung und was notwendig, wenn eine vergleichsweise junge Frau das internationale Gesicht und Aushängeschild der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt ist?
Bei Blinken gepunktet, in Peking außen vor
Und wie viel Substanz hat „feministische Außenpolitik“ über die Tatsache hinaus, dass Baerbock die Frauen öffentlichkeitswirksam immer mitdenkt? Ist es wirklich weiblich oder einfach nur Annalena Baerbock, wenn sie Politik mit „heißem Herz“ macht? Zehnmal reist sie in die Ukraine, spricht mit den Menschen und reist auch dahin, wo es gefährlich ist. Doch am Kanzler – der in seiner intellektuellen Distanziertheit eine Art Gegenstück zu Baerbock bildet – prallen ihre Forderungen nach mehr und stärkeren Waffen für die Ukraine regelmäßig ab. Auch in anderen Fragen, etwa der deutschen China-Strategie oder der nationalen Sicherheitsstrategie, ringen Scholz und Baerbock über Monate miteinander.
Bei anderen Männern funktioniert Baerbocks Charme. Mit US-Außenminister Anthony Blinken versteht sie sich so erkennbar gut, dass die „Bunte“ den beiden gar eine Affäre andichtet – was die Außenministerin entschieden dementieren lässt. In Peking findet man Baerbock weit weniger charmant. Staatschef Xi Jinping bezeichnet sie im September 2023 in einem Interview mit dem US-Sender Fox als „Diktator“. „Sie hat gerne klar Position bezogen, auch in Bezug auf China. In Peking kam das aber nicht gut an“, sagt Christian Wilp, der Baerbocks Reisen für ntv wiederholt begleitet hat. Die Außenministerin sei oft wenig diplomatisch gewesen: „Mit diesem moralischen Zeigefinger macht man sich keine Freunde.“ Mehr Pragmatismus hätte Deutschland vielleicht eher Türen und Ohren geöffnet, mutmaßt Wilp.
Auch im Nahen Osten, wo mit dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 die zweite große Krise in Baerbocks Amtszeit entbrennt, kann sie trotz enorm aufwendiger Pendeldiplomatie nur begrenzt helfen. Die Regierung um Benjamin Netanjahu will keine Appelle nach mehr Humanität im Gazastreifen hören. Den arabischen Ländern gilt Deutschland als Alliierter Israels. Dass es dem Auswärtigen Amt gelingt, im Frühjahr 2024 ein SOS-Kinderdorf im schwer umkämpften Gazastreifen zu evakuieren, zählt Baerbock zu den Erfolgen ihrer Amtszeit.
Ein anderes Beispiel: „Der größte Erfolg ist manchmal die abgewendete Krise, die keine großen Schlagzeilen macht“, sagt Baerbock in einem „Spiegel“-Interview. „So wie unsere Moldau-Plattform, die den Kollaps des Landes verhindert hat.“ Zusammen mit anderen westlichen Staaten half Deutschland bei der Stabilisierung des kleinen Landes, das als nächstes Ziel von Waldimir Putins Eroberungsfantasien angesehen wird.
Stress mit Partei und Öffentlichkeit
Mehrmals muss sich Baerbock in ihrer Ministerrolle auch mit der eigenen Partei herumschlagen. Als im Herbst 2022 neue Massenproteste gegen das Mullah-Regime im Iran beginnen, bleiben die Reaktionen aus Deutschland und der EU hinter den Erwartungen auch vieler Grüner zurück. Die Union nimmt im Bundestag Baerbocks „feministische Außenpolitik“ aufs Korn, die nicht zubeiße, wenn im Iran ein von Frauen getragener Protest brutal niedergeschlagen wird.
Noch härter kämpfen muss Baerbock um die Zustimmung ihrer Partei zur Reform des Gemeinsamen europäischen Asylsystems (GEAS). Das empfinden nicht nur Parteilinke als unmenschlich, während Baerbock in den Augen von Koalitionspartnern, Opposition und EU-Regierungen als Bremserin dasteht, weil sie zumindest die Internierung von Kindern in EU-Außengrenzlagern verhindern will. Die Partei folgt Baerbock schließlich, auch wenn das Thema auf gleich zwei Parteitagen hitzig diskutiert wird.
Baerbocks Arbeitspensum macht auf erfahrene Beobachter der Bundesregierung Eindruck. Fleiß kann ihr niemand absprechen. Sie hat erkennbar Freude am Amt. Auch wenn sie sich wiederholt ins Fettnäpfchen setzt. Als sie in Südafrika auf Englisch von einem „Leuchtfeuer der Hoffnung“ sprechen will, sagt sie „Speck der Hoffnung“ – „bacon“ statt „beacon“. Ein anderes Mal spricht sie von einer 360-Grad-Wende. Die Liste ihrer Versprecher und missverständlichen Äußerungen auf Deutsch und Englisch ist lang. Ausgerechnet im Amt einer Außenministerin ist so viel Misskommunikation problematisch, bremst aber Baerbock nicht aus. Ob das nun Ausdruck ihrer Unerschrockenheit oder ihrer Unverfrorenheit ist, ist eine Frage der Perspektive.
Sie hinterlässt eine Leerstelle
Baerbock, so die Zwischenbilanz ihrer politischen Karriere, hat sehr viel erreicht und sich noch mehr zugetraut. Seit sie zusammen mit Habeck im Jahr 2018 den Grünen-Vorsitz übernahm, ist die Partei um 100.000 Mitglieder gewachsen. Sie war und ist in mehreren Landesregierungen vertreten. Für einen kurzen Moment im Frühjahr 2021 schien es, als könnten die Grünen mit Baerbock an der Spitze sogar die Bundestagswahl gewinnen. Dann kam die Affäre um ein schlecht zusammenkopiertes Buch, Zweifel an der Darstellung ihres Lebenslaufes und schließlich auch völlig haltlose Vorwürfe, die nicht selten Ausdruck purer Frauenverachtung waren.
Jene Wochen haben Baerbock nach außen auch härter und vorsichtiger werden lassen, waren aber auch Vorbereitung auf ihr Dasein als Außenministerin inmitten Europas größter Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Baerbock hat fraglos gezeigt, dass auch Frauen dieses Amt können – ohne ihr Frausein verstecken zu müssen. Sie hat Menschen begeistert, die sich nie vorstellen konnten, eine wie sie in dem Amt zu erleben. Sie hat Menschen gereizt, denen alles an ihr zu links, zu schrill, zu unkonventionell war. Sie ist das Gesicht einer Partei, die nach ihrem und Habecks Rückzug plötzlich mit einer riesigen Leerstelle konfrontiert ist.
Während Habeck sich tatsächlich ganz aus der Politik zurückziehen könnte, scheint das Kapitel Baerbock noch nicht auserzählt. Deutschlands erste Außenministerin tritt auf die Karrierebremse in einem Alter, in dem die meisten Politikerkarrieren erst richtig Fahrt aufnehmen. Es könnte daher stimmen, dass Annalena Baerbock „noch lange nicht fertig“ hat.