Angst vor der islamistischen Führung | ABC-Z
„Leider war ich der Letzte hier“, sagt Pater Siradsch Dib, als er den Raum betritt. Und nur halb im Scherz fügt er an: „Jetzt muss ich wohl dieses Interview geben.“ Der maronitische Priester aus der Erzdiözese von Damaskus hat noch etwas Zeit, bevor die Abendmesse beginnt. Dann wird er wieder zu gläubigen Christen sprechen, die ihm sehr ähnliche Fragen stellen wie die ausländische Presse.
Fragen, die schon deshalb etwas unangenehm sind, weil er sie nicht abschließend beantworten kann. Fragen nach der Zukunft der Christen in Syrien, jetzt, da das Assad-Regime kollabiert ist, gestürzt unter der Führung islamistischer Rebellen, die jetzt die neuen Machthaber sind. In den Gassen von Bab Touma, einem vor allem von Christen bewohnten Viertel, herrscht Sorge. In dieser Weihnachtszeit stehen bange Fragen im Raum: Wird im nächsten Jahr der Festtagsschmuck aus den kleinen Läden verschwinden? Werden die Christen und Angehörige anderer Minderheiten im neuen Syrien Bürger zweiter Klasse sein? Werden islamische Kleidervorschriften eingeführt?
Viele beäugen die neue Führung mit Misstrauen. Sie wird dominiert von der Islamistenallianz Hayat Tahrir al-Sham (HTS), die dschihadistische Wurzeln hat. Deren Anführer, der neue starke Mann Syriens, tritt nicht mehr unter seinem Kampfnamen auf, sondern nur noch unter seinem bürgerlichen Namen Ahmed al-Scharaa. Er versichert wieder und wieder, die Rechte der Minderheiten zu wahren.
Kann man ein kurzes Kleid noch anziehen?
Die neue Regierung werde an die syrische Gesellschaft angepasst sein, erklärte er kürzlich gegenüber dem britischen Sender BBC. Er bekannte sich indes eindeutiger dazu, Frauen den Zugang zu den Schulen und Universitäten zu erhalten, als zu anderen Themen. Auf Fragen nach Alkoholkonsum oder Kleidervorschriften verwies er auf die Experten, die damit befasst seien, eine neue Verfassung und neue Gesetze auszuarbeiten.
So bleiben unter den Christen Ungewissheit und Sorge bestehen. Immer wieder sagen Ladenbesitzer oder Kirchgänger, derzeit sei es schon in Ordnung – mit Betonung auf derzeit. Eine junge Konditorin in Bab Touma fürchtet nicht um ihr Geschäft mit dem Weihnachtsgebäck. Sie ist aber nicht ganz sicher, ob sie das neue Kleid, dass sie extra für den Weihnachtsabend gekauft hat, anziehen kann. „Es ist ziemlich kurz“, sagt sie.
Auch Pater Siradsch kann nicht mit Bestimmtheit sagen, wie die Zukunft aussehen wird. Möglich, dass die neuen Machthaber irgendwann ihre tolerante und pragmatische Maske fallen ließen, sagt er. „Mein Gefühl sagt mir – jetzt –, dass ich und meine Leute nichts zu befürchten haben.“ Man müsse allerdings in der Zukunft wachsam bleiben.
Die Assad-Propaganda verbreitete Angst vor Sunniten
Er will den Leuten ein bisschen Hoffnung geben, predigt in diesen Tagen Zuversicht. Der Priester berichtet auch von einer Zusammenkunft wenige Tage nach dem Sturz des Assad-Regimes. Da habe ein Religionsbeauftragter der islamistischen Übergangsregierung die christlichen Würdenträger in der syrischen Hauptstadt getroffen und versucht, ihre Sorgen zu zerstreuen.
„Ich habe ihn direkt darauf angesprochen, ob es wie in früheren Zeiten eine Kopfsteuer geben wird, ob irgendwann eine Religionspolizei eingeführt wird“, sagt Pater Siradsch. „Er versicherte mir, es gebe nicht die Absicht, das zu tun.“ Der Religionsbeauftragte habe ihm außerdem „zu 100 Prozent“ versichert, dass HTS den dschihadistischen Mantel abgelegt habe.
In Bab Touma können die Leute unbehelligt zur Messe kommen. Bilder aus der Stadt Homs zeigten vor einigen Tagen, wie Tausende feierten, als nach einem Countdown die Lichterketten an einem haushohen Weihnachtsbaum eingeschaltet wurden – begleitet von westlicher Großraumdiskomusik. Ähnliche Szenen gab es auch in der Küstenstadt Latakia. Dennoch fällt es manchen in dem Damaszener Christenviertel schwer, Vertrauen zu fassen.
Die Leute haben zwar damit begonnen, die Metallrollläden ihrer Geschäfte mit Farbe zu überstreichen, auf denen jahrelang flächendeckend die Flagge des alten Regimes prangte. Aber die kollektive Erinnerung und die Angst vor einer sunnitischen Machtübernahme, die den Christen von der Propaganda der Assads eingeimpft wurde, lässt sich nicht so leicht überdecken. „Ich bin 52 Jahre alt“, sagt Pater Siradsch. „Mein ganzes Leben lang wollte man mir weismachen, die Muslime in Syrien seien Extremisten.“ Er habe immer unter Muslimen gelebt, die Mehrheit von ihnen in Syrien sei moderat und weltoffen.
Manche Christen wollen Waffen
Andere Priester in Bab Touma klingen pessimistischer. Die Kirchenvertreter in Syrien waren auch nicht unbeteiligt daran, die Gesellschaft zu vergiften. Bischöfe setzten auf den Schutz der Assads, nicht auf einen syrischen Gesellschaftsvertrag, um ihre Position zu schützen. Sie halfen dabei, die Erzählung zu verbreiten, das Regime sichere die Existenz der Christen in Syrien und dass diese bedroht sei, sollte es stürzen. So ist Pater Siradsch mit Gläubigen konfrontiert, deren Ressentiments tief verankert sind.
Eine junge Frau aus dem Viertel spricht, wenn es um die neue HTS-Führung geht, beharrlich von der Nusra-Front, also jener unter dem Banner des Terrornetzes Al-Qaida kämpfenden Gruppe, aus der die Islamistenallianz hervorgegangen ist. Berichte von einzelnen Übergriffen durch Rebellenkämpfer bestärken viele in ihrer Skepsis.
Manche Christen scheinen hoffnungslose Fälle zu sein. Ein Arzt zum Beispiel, der in verschwörerischem Ton von einer dschihadistischen Machtübernahme spricht, die jetzt auch Europa zwangsläufig drohe. „Syrien ist jetzt unter der Herrschaft von Al-Qaida“, raunt er. Der Westen müsse jetzt die Christen bewaffnen, um das Schlimmste zu verhindern. Seine Nachbarn, sagt er, hätten ihn zu Unrecht als Schergen des Regimes denunziert, jetzt sei er ein gesuchter Mann. Er ist in Begleitung einer Kollegin, die sagt, sie müsse sich ebenfalls vor den neuen Machthabern verbergen. Beide wittern überall Spitzel. „Wir müssen uns organisieren und Widerstand leisten“, sagt die Frau.
Ein älterer Herr, der sich nur als Saadi vorstellt, ist auf dem Weg zur Messe in der Kirche von Pater Siradsch. Er blickt deutlich weiter in die Geschichte zurück, um die Angst der syrischen Christen vor den Muslimen ihres Landes zu erklären. „Wir Christen waren immer in Gefahr“, sagt er und weist auf die Gasse, aus der er gerade kommt. „Da vorne, auf der Straße haben sie Leute enthauptet, mein Großvater hat es selbst gesehen“. Er spricht von dem großen Massaker, das 1860 unter der Herrschaft der Osmanen an den Christen angerichtet wurde.
Angst will er keine haben. „Gott beschützt uns“, sagt der Mann, der sogar so weit geht, dem Aufstieg der gestrengen Islamisten etwas Positives abzugewinnen. „Vielleicht sorgen sie ja dafür, dass sich die jungen Frauen bald etwas züchtiger anziehen.“