Kultur

Angst vor dem Ungewissen in Damaskus | ABC-Z

Irgendwann wird es dem bärtigen Milizionär zu bunt. Er herrscht die beiden hageren Jungs an, die sich in einen Rausch gefeuert haben. Sie stehen mitten auf dem Umayyaden-Platz in Damaskus und entleeren ihre Magazine. Patronenhülsen regnen auf die umstehenden Autos, die nicht vorankommen. Sie sprenkeln überall den Asphalt. Passanten, die sich den Weg durch das krachende Chaos bahnen, müssen den Kopf einziehen. Kinder halten sich verschreckt die Ohren zu. Die Menschentraube, die auf einem zurückgelassenen Panzer zu revolutionärem Liedgut tanzt, johlt. Verschleierte Mädchen, die in offenen Autofenstern sitzen, reichen ein Sturmgewehr herum, als wäre es ein Pokal. Lange lassen sich die zurechtgewiesenen Kämpfer nicht von der Standpauke beeindrucken. Sie stimmen in ein weitere Crescendo von Freudenschüssen ein.

Ungläubige Freude und Beklemmung liegen in der syrischen Hauptstadt Damaskus nah beieinander. So schwer sich aber viele Syrer ein Leben ohne das Assad-Regime vorstellen konnten, so schwer scheint es vielen zu fallen, an eine friedliche Zukunft zu glauben. Nach mehr als 50 Jahren ist die brutale Herrschaft des Assad-Clans vorbei, der das Land in den Abgrund gestürzt hat. Noch vor Wochen schienen solche Jubelfeiern undenkbar, schien Baschar al-Assad unstürzbar. Ein Hauch von dessen Allgegenwart liegt noch heute über Damaskus. Die Portraits sind zwar abgerissen worden, aber die Symbole des Regimes lassen sich nicht so leicht aus dem Stadtbild entfernen. Die alte Flagge zum Beispiel ziert flächendeckend die Metalljalousien verrammelter Geschäfte.

„In der Region wird eine neue Geschichte geschrieben“

Doch im November kollabierten die Streitkräfte in Rekordzeit, und der Gewaltherrscher machte sich klammheimlich aus dem Staub. Jetzt stehen Rebellenkämpfer an den Checkpoints, die nicht alle einen professionellen Eindruck vermitteln. AK-47-Sturmgewehre sind das dominierende Accessoire im Straßenbild. An Waffen und Munition herrscht kein Mangel in Damaskus. Wohl aber an einer unangefochtenen, ordnenden Hand. „Man konnte Waffen einfach von der Straße aufsammeln“, berichtet ein Einwohner. Es hat Plünderungen gegeben. In den reicheren Vororten wollen Einwohner mitbekommen haben, wie Villen reicher Assad-Kader geplündert wurden. Es habe auch Morde gegeben.

Weiter im Norden ist es ruhiger. Dort sorgt die Islamistenallianz „Hay’at Tahrir al-Scham“ (HTS) mit harter Hand für Ruhe. Sie hatte die Speerspitze der Offensive gegen Assad gebildet. Die Kämpfer gelten als diszipliniert, ihr Anführer Abu Muhammad al-Golani hat die klare Order ausgegeben, Plünderungen oder Racheakte zu unterlassen. Er ließ sich in Damaskus an symbolträchtiger Stelle feiern. „Nach diesem großen Sieg wird in der gesamten Region eine neue Geschichte geschrieben, meine Brüder“, sagte er. Syrien werde mit harter Arbeit zu einem Leuchtfeuer für „die islamische Nation“ werden. Es war ein Auftritt, der Golanis Machtanspruch untermauern sollte.

Noch sind die HTS-Brigaden allerdings erst dabei, in Damaskus einzurücken. „Ihre Kontrolle weitet sich wie ein Tintenfleck aus – aber sie wird nicht ohne Widerstand vonstattengehen“, berichtet ein gut in der Politik und den Milzen vernetzter Einwohner der syrischen Hauptstadt. „Ich kann mir nur sehr schwer vorstellen, dass es friedlich vonstattengeht“, fügt er an. Rivalisierende Gruppen und örtliche Milizen würden nicht so einfach klein beigeben. Die Checkpoints an der Schnellstraße sind nicht von Uniformierten bemannt, sondern von Leuten aus der Gegend.

Bombeneinschläge und Freudenschüsse

Damaskus wurde nicht von den HTS-geführten Rebellen erobert, die aus dem Norden vorrückten. Das Regime brach zusammen, als Aufständische in Damaskus selbst den Aufstand probten. Einige Gruppen aus dem Süden, die den HTS-Islamisten aus dem Nordwesten in alter Ablehnung verbunden sind, schafften es rechtzeitig in die Stadt. Deren Kämpfer eskortierten Assads Ministerpräsidenten Muhammad Ghazi al-Dschalali aus seinem Büro in ein Luxushotel, wo auch UN-Vertreter residieren und Kader der neuen Führung Quartier bezogen haben. Dschalali soll helfen, einen geordneten Übergang zu einer neuen Regierung ins Werk zu setzen.

Vieles wirkt in diesen Tagen noch improvisiert. Im Informationsministerium, auf dessen Fluren sich Splitter zerborstener Scheiben und heruntergerissener Bilderrahmen mit dem Assad-Portrait verteilt haben, sind die neuen Funktionäre noch unschlüssig, ob ausländische Journalisten eine Genehmigung brauchen. Sie sollen sich nochmal melden. Die in Schwarz gekleideten jungen Männer, die am Eingang Wache stehen, schwanken einen kurzem Moment, ob sie lieber freundlich oder angsteinflößend auftreten wollen. Am Ende geben sie lächelnd den Weg frei.

Im Hintergrund steigt Rauch aus einem weiteren großen Zweckbau auf – es ist ein Geheimdienstsitz, der nicht von den Aufständischen in Brand gesteckt, sondern von einem israelischen Luftangriff getroffen wurde. Das dumpfe Grollen der Bombeneinschläge gehört ebenso zum Grundrauschen dieser Tage wie die Salven der Freudenschüsse, das Pfeifen verirrter Projektile und freudentrunkene Ausrufe, die ein „freies Syrien“ feiern.

„Wir werden entweder wie Ägypten oder wie der Irak“

„Das ganze Volk ist glücklich“, ruft ein Mann in den Gassen der Altstadt von Damaskus, in denen kaum jemand unterwegs ist. Hier leben viele Menschen, die sich vor den sunnitischen Islamisten mehr gefürchtet hatten als vor dem Regime und seinem Folterapparat. Man muss auch nur ein paar Ecken weitergehen, um auf Leute zu stoßen, bei denen Skepsis herrscht. Ein beleibter älterer Herr namens Hisham steht rauchend vor einem kleinen Park, knurrt auf die Frage, was er empfunden habe, als die Kunde von Assads Flucht die Runde machte: „Ich habe gar nichts gefühlt“. Mit Politik habe er nichts zu tun. „Ich hoffe nur, dass nicht irgendwelche Dummköpfe Ärger machen.“ Dann erzählt er noch vom schiitischen Bäcker nebenan, dessen Laden vor einigen Tagen einfach geschlossen blieb. „Er wird wiederkommen“, sagt Hisham.

Nicht nur die Frage nach der politischen Führung steht in diesen Tagen im Raum, sondern auch die Frage, wie das neue Syrien ohne Assad aussehen wird. Eine „islamische Nation“, wie Golani sie ausgerufen hat, behagt längst nicht allen, schon gar nicht den Christen. Einige Gassen von dem kleinen Park entfernt steht Pater Gamil Yaschua im Halbdunkel vor der kleinen Kirche, in der er predigt. Er saß selbst im Gefängnis ein, weil er Assad einmal am Telefon mit einem Esel verglich. Aber freudetrunken wirkt er nicht. „Ich hatte Angst, als ich sah, wie sie die Paläste plünderten“, sagt er. „Sie sind doch auch nicht Eigentum der Assads, sondern des Volkes.“

In seinen Augen steht Syrien vor einer Wahl zwischen zwei Übeln. „Wir werden entweder wie Ägypten mit einer neuen Diktatur, oder wie der Irak, der nach dem Sturz von Saddam Hussein in einen langen Bürgerkrieg versank.“ Der Pater neigt dem Irak-Szenario zu. Er traut Golani nicht, und auch nicht seinen Ankündigungen, die Rechte der religiösen Minderheiten zu wahren. „Es ist strengstens verboten, die Kleidung von Frauen zu beeinflussen oder Forderungen in Bezug auf ihre Kleidung oder ihr Aussehen zu stellen, einschließlich Forderungen nach Sittsamkeit“, heißt es in einer der jüngsten Erklärung seiner Militärführung. „Ich habe Angst vor den neuen Gesetzen und dass sie uns zu Bürgern zweiter Klasse machen“, sagt Pater Yaschua.

Ein Freund des Geistlichen stimmt ihm nickend zu. Auf die Frage, was er fühlte, als klar war, dass das Assad-Regime tatsächlich gestürzt ist, denkt er einen kurzen Moment nach und sagt: „Große Erleichterung und Freude – und große Angst vor dem Ungewissen.“

Back to top button