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Angela Merkel: Biografie über ein schweres Erbe – Politik | ABC-Z

Mit seiner Rede von der „Übergangskoalition“ hat der Grünen-Co-Vorsitzende Omid Nouripour ein zeitgeschichtliches Argument zur Bewertung des Kabinetts Scholz vorgebracht: Demnach wäre „nach der Ära Merkel“ von der Ampelkoalition gar nicht mehr zu erwarten, als sie leistet. Und zwar deshalb, weil nach Angela Merkels Regierungszeit, die vom November 2005 bis zum Dezember 2021 reichte, sich noch nichts Neues formiert habe, was den Namen „Ära“ verdiente. Die Hindernisse, die einer Fortschrittskoalition entgegenstehen, sind also, so gesehen, zu einem großen Teil Hinterlassenschaften und Nachwirkungen aus der Zeit der langjährigen Vorgängerin.

Stimmt das? Ob man damit allein den Zustand der gegenwärtigen Regierungspolitik erklären oder gar entschuldigen kann, besonders die Unfähigkeit der drei Parteien zur Einigung im Sinne des Gemeinwohls, das steht dahin. Worauf sich aber tatsächlich immer mehr politische Beobachter einigen können, das ist die Feststellung, dass in der Merkel-Zeit sehr vieles liegen geblieben ist. Während die Kanzlerin seinerzeit große Krisen meisterte und international Respekt erwarb, wuchs in Deutschland selbst der Reform- und Investitionsstau. Und der wird jetzt, in schwereren Zeiten, schmerzhaft spürbar.

Merkel selbst sprach nicht mit Lohse

Eckart Lohse, ein erfahrener Hauptstadtjournalist der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, sieht darin „Die Täuschung“ der Angela Merkel. Sein gleichnamiges Buch läutet die Deutungskämpfe dieses Herbstes um Merkels „schweres Erbe“ (Lohse) ein. Lohses Buch kommt wie eine vorweggenommene Korrektur daher, bevor Angela Merkel im November mit ihrem mit Spannung erwarteten Memoirenbuch unter dem Titel „Freiheit“ ihre eigene Version der Geschichte herausbringen wird. Lohse hat für sein Buch mit wichtigen Weggefährten (und Rivalen innerhalb der Union von CDU und CSU) reden können. Aber die Altkanzlerin selbst und ihre Beraterin Beate Baumann lehnten es ab, mit ihm Gespräche zu führen – nicht so überraschend, denn sie haben ja parallel am Konkurrenzprodukt gearbeitet, in kommerzieller und noch mehr in politischer Hinsicht.

Die erste Frau im Amt: Kabinettstisch in Berlin. (Foto: Regina Schmeken/Regina Schmeken)

Worin also bestand die Täuschung der sechzehn Merkel-Jahre? Eckart Lohse will mit seinem Buch zeigen, „wie durch das Zusammentreffen einer Gesellschaft, die sich weigert, die Herausforderungen des neuen Jahrhunderts mit der nötigen Schärfe zu sehen, und einer Politikerin, die im Bemühen um die Unterstützung durch die westdeutsch geprägte Mehrheitsgesellschaft deren tatsächliche oder auch nur vermeintliche Wünsche erfüllt, die Veränderung auf Gebieten ausbleibt, auf denen sie dringend geboten wäre“. Diesen verschachtelten Satz muss man möglicherweise zweimal lesen, um ihn zu erfassen – aber fairerweise muss man sagen, dass der Autor an dieser Stelle sein Vorhaben stark verdichtet zusammenfasst, während er sonst insgesamt eine flüssige, gut lesbare Prosa schreibt. Bei vielen Menschen, schreibt er einfacher, war „die Sehnsucht groß, (…) sich von der Kanzlerin in Sicherheit wiegen zu lassen“.

Der Ruf nach Ertüchtigung des Landes verhallte

Aus diesem Grund ist „Die Täuschung“ denn auch weniger eine große Anklage geworden, sondern eher eine illusionslose Analyse: Zum Täuschen gehören eben Leute, die sich täuschen lassen. „Die Welt will betrogen werden“ hieß ein seit dem Spätmittelalter beliebter Spruch.

In einer über weite Strecken wirtschaftlich erfolgreichen Zeit mit geringer Arbeitslosigkeit sahen viele in Angela Merkel eine Garantin von Stabilität, die externe Schocks abfederte; da verhallte der Ruf nach der Ertüchtigung des Landes im Inneren, weil laut Lohse nach dem Prinzip regiert wurde: „Was durch Wegsehen noch eine Weile aufgeschoben werden kann, wird aufgeschoben.“

Eckart Lohse: Die Täuschung. Angela Merkel und ihre Deutschen. dtv, München 2024. 335 Seiten, 25 Euro. E-Book: 19,99 Euro. (Foto: dtv)

Außerdem hatte Merkel aus ihrem ersten, knappen Wahlsieg über Gerhard Schröder im Jahr 2005 gelernt, dass man mit allzu beherzten Reformen des deutschen Wohlfahrtsstaates schwerlich Mehrheiten gewinnt. Dreimal regierte sie zusammen mit den Sozialdemokraten, einmal mit der FDP, aber auch mit dieser änderte sie wenig an ihrem „Ziel, ihren 80 Millionen Schutzbefohlenen möglichst wenig zuzumuten“, wie Eckart Lohse schreibt. Ein Beispiel zeigt ihre ganze Anpassungsfähigkeit in dieser Hinsicht – laut Lohse Merkels zentrale Eigenschaft: Als junge Bundesumweltministerin versuchte sie 1995, ein Tempolimit auf den Autobahnen durchzusetzen; in 16 Kanzlerinnenjahren aber wird dieser deutsche Sonderweg, die Lizenz zum Rasen, nicht abgeschafft.

Die Schuldenbremse wurde allgemein bejubelt

Auch wenn damit schon generell erklärt ist, wie „die Täuschung“ funktionierte, so erspart es der Autor seiner Hauptfigur natürlich nicht, die Versäumnisse im Einzelnen zu behandeln und nach den Gründen zu forschen. Lohse gibt zwar zu, dass man hinterher das Privileg hat, schlauer zu sein, auch er habe „als journalistischer Beobachter angesichts der Geschwindigkeit der Ereignisse manche Dinge nicht in der Schärfe erkannt und benannt, die sich aus dem Rückblick ergibt“. Dennoch macht er in seiner lebendigen Erzählung anschaulich, wie vieles in Deutschland verkümmern konnte: „die Verkehrs- und die digitale Infrastruktur, die Landesverteidigung, die Energiewende, die Bildung, der Bau von Wohnungen“.

Unterwegs in Richtung Geschichtsbücher: Angela Merkel auf dem Parteitag 2018. (Foto: Regina Schmeken/Regina Schmeken)

Das lag und liegt, wie ja heute allgemein bekannt, an der Zurückhaltung bei modernisierenden Investitionen, also an der „schwarzen Null“, die der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher als „das ideale politische Projekt eines inhaltlich erschöpften Konservatismus“ bezeichnet hat. Allerdings ist Lohses Erinnerung an die Begleitumstände hilfreich: Gerade auch der SPD-Finanzminister Peer Steinbrück setzte sich an Merkels Seite fürs strenge Haushalten ein, und unter dem Schock der Banken- und Finanzkrise wurde die 2009 beschlossene Schuldenbremse über die Partei- und Bundesländergrenzen hinweg bejubelt.

Für die Bundeswehr etwa schien man ohnehin nicht mehr so viele Mittel und Soldaten zu brauchen, was sich heute rächt, unter Merkel aber nicht auf viel Widerstand stieß. Ausführlich behandelt Eckart Lohse die halbherzige Energiewende nach dem Reaktorunglück von Fukushima 2011 sowie die halbherzige Abgrenzung vom autokratischer und imperialistischer werdenden Wladimir Putin – was eng miteinander zusammenhängt. In der Bundestagsdebatte über die Verkürzung der Atomlaufzeiten nach Fukushima sagte der Abgeordnete Michael Fuchs vom Wirtschaftsflügel der CDU damals: „Einen Punkt möchte ich in dem Zusammenhang erwähnen, der mir Sorge macht: Wir werden natürlich in eine noch größere Abhängigkeit von Russland geraten.“ Und als es um die Gaspipeline Nord Stream 2 ging, hat Volker Bouffier aus Hessen dies für einen Fehler gehalten, wie er im Gespräch mit Lohse sagt: „Dann aber sagt Bouffier, er habe das ,intern‘ thematisiert. Laut geworden ist er nicht.“ All diese Warnungen blieben mithin wirkungslos.

Anschmiegen ans westdeutsche Machtgefüge

Neben den Zeitumständen und der willigen Realitätsflucht der Bürgerinnen und Bürger bietet Eckart Lohse eine entscheidende Erklärung für den beweglichen Kurs der Kanzlerin an: „Angela Merkel will eine lupenreine, eine mustergültige Bundesrepublikanerin sein.“ Um nach der Wiedervereinigung nicht zu sehr als ostdeutsche Frau hervorzustechen und anzuecken, habe Merkel sich an das westdeutsch und männlich dominierte Machtsystem in Staat und Partei angeschmiegt beziehungsweise es durch Anverwandlung ausgetrickst. Nur gegen Ende ihrer Regierungszeit suchte sie demnach stärker ihre Überzeugungen durchzusetzen: ihre Sympathie für offene Grenzen und eine rationale, naturwissenschaftlich geleitete Bewältigung der Coronapandemie. Und erst beim Abdanken sagte sie erstmals öffentlich laut, dass es sie verletzt habe, wenn ihre DDR-Biografie als „Ballast“ bezeichnet wurde.

An diesem zentralen Punkt ist bei Eckart Lohse vielleicht ein bisschen viel psychologische Ferndiagnose im Spiel; und hier und da besteht die Gefahr, dass die gönnerhafte Haltung westdeutscher Männer, die er ja eigentlich nur als historischen Faktor erklären und problematisieren will, auf den Autor selbst abfärbt. Trotzdem lohnt es sich, dieses Buch zu lesen – im Vergleich zu der umfassenderen Merkel-Biografie seines Kollegen Ralph Bollmann liegt hier der Akzent mehr auf dem, was die langjährige Kanzlerin selber unterlassen hat, als auf den Beharrungskräften, denen sie gegenüberstand.

Es ist gut und wichtig, dass sich nicht nur Hasser und Populisten kritisch mit dem Erbe Merkels befassen. „Die Täuschung“ ist deshalb eine hervorragende Vorbereitung auf die Debatte, die später im Herbst zu erwarten ist – über das historische Bildnis, das sie von sich selbst meißeln will.

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