Kultur

Andreas Gursky: Was immer war, wird nicht mehr sein | ABC-Z

Dass Kunst geografische und zeitliche Distanzen überbrücken
kann, ist einem natürlich klar. Bilder wurden und werden aufgehoben, über
Jahrhunderte hinweg, sie wurden und werden immer weiter gezeigt, an
verschiedensten Orten der Welt, meist in Museen. Deren ganze Idee ist ja,
Überzeitlichkeit zu ermöglichen, endloses Dasein für diejenige Kunst, die als
bewahrenswert gilt.

Aber manchmal, eher selten, wird sie einem doch schlagartig
bewusst: die Möglichkeit der Zeit- und Ortsverschiebung in der Kunst. Etwa wenn
man in Manhattan, Upper East Side, in den überschaubar kleinen Räumen der New
Yorker Dependance der Galerie Sprüth Magers vor einem gewaltigen Panorama
steht. Die Fotografie zeigt zweifelsfrei Düsseldorf, den Rheinknick bei
Oberkassel, die Rheinwiesen, von einer dünnen Schicht aus Schnee und Eis
bedeckt. Und überall sind Menschen. Aber seltsam vereinzelt, sie stehen allenfalls
in kleinen Gruppen beieinander. Das ist einerseits plausibel, die Leute hat
offenbar die Witterung an diesen Ort gebracht, bei genauem Hinsehen lässt sich
erkennen, dass einige Schlittschuh laufen auf Eisflächen, die Frost
auf natürliche Weise hat entstehen lassen. Andererseits ist die Vereinzelung
der Leute doch merkwürdig. Sie wird erklärbar, und diese Fotografie wird
nebenbei zum Abbild eines zeithistorischen Moments, sobald man realisiert, dass
das Bild während eines Coronalockdowns im Jahr 2020 aufgenommen wurde. Man
wird also fünf Jahre später noch einmal Zeuge dessen, was damals social
distancing
genannt wurde. Ein Begriff, der erst im Nachhinein, nachdem die
Angst um die Gesundheit nur noch eine Erinnerung ist, eine dunkle Wucht
entfaltet: Wie war das noch, als die Menschen sich physisch voneinander
entfernt haben?

Andreas Gursky hat dieses Bild gemacht, und das bedeutet bei
dem weltberühmten Künstler aus Düsseldorf, dass auch die auf 4 × 2,15 Meter
hochgezogene Fotografie Eisläufer (2021) kein reines Dokument der
Zeitgeschichte ist. Sondern ein mit den Mitteln digitaler Nachbearbeitung
komponiertes Kunstwerk. Das enthält ein Element der bildnerischen Fiktion: Bei
dem gewaltigen Gewimmel von Menschen ist man sich nicht sicher, welche Figuren
wohin geschoben wurden, ob sie womöglich mehrmals auftauchen, aus verschiedenen
Aufnahmen stammen. Das digitale Arrangieren bedeutet hier aber nicht, dass es
der Vereindeutigung des Motivs dient. Es bleibt dem Betrachter überlassen, ob
er in dem Bild einen Moment des Schreckens erkennen möchte oder des
Gemeinsamseins der Vereinzelten in Zeiten einer Pandemie, der Unzerstörbarkeit
der Sehnsucht nach dem Spaß, auf Eis herumzulaufen. Und fast nebenbei gibt es
einen Bezug zu Gurskys eigenem Schaffen, das Bild Rhein II aus dem Jahr 1999,
das dessen Weltruhm mitbegründete. Auch Rhein II wurde in Oberkassel
aufgenommen, doch man könnte in dem Motiv das genaue Gegenteil von Eisläufer
erkennen, Rhein II ist eine menschenleere, künstlerisch begradigte Landschaft
von eigentlich nur horizontalen Linien, Wiese, Radweg, Wiese, Fluss, Wiese, Himmel
bilden die Flächen, Fotografie als Minimal-Art-Verweis eigentlich.

Andreas Gursky, “Eisläufer” (2021)
© Andreas Gursky /​ ARS, 2025 Courtesy: Sprüth Magers

In der Inherited Images betitelten Einzelschau Gurskys in
New York kommt ein weiteres wesentliches Element dazu: Der Fotograf stellt
seinen jüngsten und zum Teil erstmals gezeigten Bildern berühmte Gemälde
gegenüber und schafft neue Orts- und Zeitbeziehungen. Die Gemälde sind nicht
gerahmt, sondern wurden in Großreproduktionen direkt auf die Wände der Galerie
aufgebracht, als gewaltige Kunstfototapete. Im Fall von Eisläufer ist an der
gegenüberliegenden Wand mit Winterlandschaft mit Eisläufern (1565) von Pieter
Bruegel dem Älteren
eine der bekanntesten Dorfszenen der Kunstgeschichte zu
sehen.

Es lässt sich nun erst mal ausschließen, dass diese
Gegenüberstellung mit Alten Meistern der Nobilitierung von Gurskys Fotografien
dienen soll. Das haben die längst nicht mehr nötig, und die Zeit der Debatten
über Fotografie als Kunstform sind Jahrzehnte her und ausgestanden. Auch
dienten die Gemälde nicht als Vorbilder oder Vorlagen für die Motive der
Fotografien Gurskys. Eher ist es so, dass die Bilder einander zu erkennen
scheinen, eben über weite zeitliche und geografische Distanz hinweg; und
Gurskys Methode ließ sich schon immer als Malerei mit den Mitteln der
Fotografie und der Bildnachbearbeitung verstehen. Außerdem ist es eh viel
interessanter, sich entlang dieser Beispiele von Bilderpaaren Gedanken darüber
zu machen, wie das individuelle und das kollektive Bildergedächtnis beschaffen
ist; was da alles eingesickert ist an Motiven, die sich auch doppeln. Eben weil
sie zu dem gehören, was man so die menschliche Erfahrung nennt. Eisgelaufen
etwa auf zugefrorenen Wasserflächen wurde schon vor bald fünfhundert Jahren, und
Künstler beschäftigte die Szenerie auch vor bald fünfhundert Jahren.

Installationsansicht aus “Inherited Images” bei Sprüth Magers in New York: Links sieht man Bruegels “Winterlandschaft mit Eisläufern”, rechts Andreas Gurskys “Eisläufer”. © Courtesy the artist, Foto: Genevieve Hanson/​Sprüth Magers, New York

Die Welt und wie wir in sie blicken, das verändert sich
womöglich an vielen Stellen weniger, als wir es oft gegenwartsbesoffen
annehmen. Wenn Gursky seine Handykamera benutzt hat, um den Nachthimmel zu
fotografieren, den Mond zwischen Wolken wie bei Maledives (2023), so wiederholt
sein in diesem seltenen Fall fast schon naiv wirkender Blick denjenigen, den
William Turner 1796 auf seinem Gemälde Fishermen at Sea nach oben warf übers
Meer. Dem Turner-Gemälde fehlt bei Sprüth Magers aber das zentrale Element des
Fischerboots; die Reproduktion wurde so um einen Kamin herum an die Wand
angebracht, dass dieses Herzstück des Bildes ausgeschnitten ist. Das ist
beinahe lustig, wenn man davorsteht – das Boot würde, so kann man dessen
Auslassung aber auch verstehen, nur vom Mond am Firmament ablenken, den ja auch
Gursky fotografiert hat. Und der Kampf der Fischer gegen die Wellen in Turners
Gemälde würde womöglich nur davon ablenken, worum es Gursky hier zu gehen
scheint: Bilder mögen heute mit völlig anderen Instrumenten hergestellt und von
Handys eh algorithmisch verfremdet ausgeworfen werden, damit das Foto so
aussieht, wie wir die Wirklichkeit gerne hätten respektive deren Abbild – aber
den Blick nach oben zu richten in der Nacht, diese Geste existiert und wird existieren, solange
es Menschen gibt.

Andreas Gursky, “Lützerath” (2023) © Andreas Gursky /​ ARS, 2025 Courtesy: Sprüth Magers

Gursky benutzt die Gegenüberstellungen augenscheinlich auch
als konkrete Kommentierung. So hat er Bruegels Der Sturz der rebellierenden
Engel
(1562) seinem Bild Lützerath (2023) hinzugesellt. Lützerath zeigt eine
Gruppe von Baumwipfeln, in denen Klimaschützer Plattformen errichtet haben und
selbst in schwindelerregender Höhe hocken und zwischen Ästen hängen. Die Fotografie zeigt die
Proteste 2023 gegen den weiteren Braunkohleabbau im Rheinischen Revier
und die
Zerstörung des Weilers Lützerath, ein großangelegter Polizeieinsatz beendete
die Aktion. Gursky hat die Räumung fotografiert, man sieht am unteren Bildrand so
gerade noch die behelmten Köpfe von Beamten in Kampfmontur. 

Indem Gursky das
biblische Höllensturzthema und die fallenden Engel Bruegels zu seinem Bild Lützerath in
Beziehung setzt, scheint er politisch sehr konkret Partei zu ergreifen. Das ist
in der Eindeutigkeit überraschend für Gursky. Andererseits gibt es im Schaffen
des heute 70-Jährigen ausreichend Hinweise darauf, wie sehr ihn die
Auswirkungen der Klimakatastrophe etwa auf Landschaften befassen. Auch in der
New Yorker Ausstellung gibt es einen zweiten Verweis darauf, Gursky ist noch
einmal zum Aletschgletscher in den Berner Alpen zurückgekehrt, den er bereits
1993 fotografiert hat. Hätte er das nun bei Sprüth Magers zu sehende Bild
Aletsch Glacier II (2024) neben das drei Jahrzehnte zuvor entstandene eigene Werk
gehängt, hätte man das Zurückweichen des Gletschers eindeutig erkannt.

Andreas Gursky, “Aletsch Glacier II” (2024)
© Andreas Gursky /​ ARS, 2025 Courtesy: Sprüth Magers

Doch einer so simplen Vorher-Nachher-Logik folgt Gursky
nicht, stattdessen stellt er seinem neuen Aletschgletscherbild Das Eismeer bei
Chamonix
(1825 bis 1827) des sächsischen Universalgenies Carl Gustav Carus
gegenüber und damit einer spezifischen Naturfeier aus der Romantik.
Selbstverständlich könnte man in Carus’ Eismeer auch das heute kaum mehr
Existierende und damit einen gewaltigen Verlust erkennen. Aber wesentlicher
erscheint hier der Vergleich der Blicke, mit dem einerseits der Maler und
andererseits der Fotograf zweihundert Jahre später auf und in die Welt schauen:
Carus’ Darstellung zeigt reine Erhabenheit, beim Betrachten von Gurskys neuer
Arbeit hingegen kann man eigentlich keine andere Empfindung als Melancholie
haben, Schnee liegt dünn in der Landschaft, die ansonsten grünbraun schimmert.
Das ewige Eis ist doch nicht ewig, und was immer war, wird nicht mehr sein.

Und so kommt man in Gurskys kleiner Ausstellung großer Werke
hier in New York ins Grübeln über eine zweite, ganz selbstverständliche
Kunstgewissheit. Nämlich die, dass das menschliche Auge oder bloß die
Gewohnheit sehr viel bereiter ist, Fotografien als Zeitkapseln zu betrachten,
als es bei Gemälden der Fall ist. Das Momenthafte, unmittelbar Vergangene bei
Motiven wie Eisläufer und Lützerath ist natürlich sinnfällig: Es gab ein
Geschehen, und das ist vorbei. Ihre universelle Bedeutung erlangen die Bilder
nun auch, weil sie in monumentaler Größe gezeigt werden. Schon klar. Indem man
aber in New York City auf die Bilder blickt, die nun geografisch so weit entfernt sind vom Ort des Geschehens, und sich fragt, wie amerikanische Augen etwa auf eine so deutsche
Szene wie die auf Lützerath festgehaltene schauen, ergibt sich noch eine ganz
andere Frage: Wie werden diese Bilder einmal in ferner Zukunft betrachtet
werden? 

Die Antwort bei Andreas Gurskys Werken könnte lauten: Die Menschen
werden die Schönheit der Bilder erkennen, selbst wenn die das Gegenteil von
Schönheit zeigen. Die Zeit, denkt man beim Verlassen der Galerie auf der Upper
East Side noch, heilt vielleicht weniger Wunden, als dass sie vor
allem Distanz schafft.

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