Geopolitik

Andreas Bovenschulte: „Bürgergeldempfänger zu Totengräbern unserer Wettbewerbsfähigkeit zu exemplifizieren, ist Populismus“ | ABC-Z

Bremens Bürgermeister Bovenschulte (SPD) spricht Merz und der Union „großes Vertrauen“ im Umgang mit der AfD aus. Zugleich wirft er der CDU/CSU eine „radikale“ Steuerpolitik vor, die zu Kürzungen in „allen möglichen Politikbereichen“ führe. Er bezweifelt, dass die Regelsätze für das Bürgergeld zu hoch seien.

Andreas Bovenschulte (SPD), 59, ist seit 2019 Bürgermeister von Bremen sowie Senator für Kultur und Religionsangelegenheiten.

WELT: Herr Bovenschulte, Sie werfen sich seit Jahresbeginn mit Verve in den Bundestags-Wahlkampf, warnen vor der Wahl der Union, vor einem Abbau des Sozialstaats. Wie groß ist Ihre Sorge, dass die SPD am 23. Februar Schiffbruch erleidet?

Andreas Bovenschulte: Ich bin fest davon überzeugt, dass wir gegenüber den aktuellen Umfragen noch deutlich zulegen werden und am Ende ein gutes Ergebnis erzielen. Die Menschen suchen angesichts einer aus den Fugen geratenen Welt nach Sicherheit, Verlässlichkeit, Beständigkeit. Dieses Bedürfnis kann Olaf Scholz besser befriedigen als alle anderen Kandidaten. Er hat die meiste Erfahrung, die größte Nervenstärke bei schwierigen Entscheidungen und die nötige Belastbarkeit in einem immer schwierigeren internationalen Umfeld.

WELT: Dagegen spricht, dass die von Scholz geführte Ampel-Regierung weder verlässlich noch beständig agiert und somit das Gegenteil von Sicherheit ausgestrahlt hat.

Bovenschulte: Ja, vielleicht hat der Kanzler zu lange versucht, diese Regierung mit einer immer marktradikaler agierenden FDP selbst um den Preis der Selbstverleugnung zusammenzuhalten. Andererseits hat die Ampel-Koalition auch vieles richtig gemacht und das Land gut durch eine ganze Reihe von Krisen geführt. Das äußere Erscheinungsbild war jedoch vom Gegeneinander geprägt. Das hat zum Absturz in den Umfragen geführt.

WELT: Unterm Strich ist die SPD in der Defensive und teilt ordentlich aus. Unter anderem werfen Sie selbst den bürgerlichen Parteien mit Blick auf die Entwicklung in Österreich vor, „den Faschisten immer wieder die Hand zu reichen“. Wollen Sie mit solchen Posts den Eindruck erwecken, dass es in Berlin nach der Wahl ähnlich laufen könnte wie in Wien?

Bovenschulte: Nein, das war eine Bemerkung zur Lage in Österreich und knüpfte an einen Beitrag des österreichischen Schriftstellers Robert Menasse in der WELT an. Menasse arbeitet da heraus, dass sowohl FPÖ als auch ÖVP bestimmte historische Wurzeln im Faschismus haben, im Nationalsozialismus einerseits, im Austrofaschismus andererseits. Sodass man sich im Grunde nicht wundern müsse über eine mögliche Regierungszusammenarbeit dieser beiden Parteien in Wien.

WELT: Also gar kein Bezug zu Deutschland?

Bovenschulte: Nein. Ich habe großes Vertrauen in die klare Anti-AfD-Haltung der Union und ihres Kanzlerkandidaten. Ich habe großes Vertrauen in meine Ministerpräsidenten-Kollegen in den unionsregierten Bundesländern, und ich kenne die Bremer Christdemokraten, die sich bei diesem Thema allesamt eindeutig positioniert haben. Insofern ist meine Hoffnung, auch meine Erwartung, dass es in Deutschland anders läuft als in Österreich.

WELT: Dennoch unterstellen Sie, unterstellt auch die SPD insgesamt den Unionsparteien, dass diese den Sozialstaat zerstören wollten. Ihr Ernst, nachdem CDU und CSU den Sozialstaat ja über 70 Jahre mit aufgebaut und verteidigt haben?

Bovenschulte: Die Union hat ein Wahlprogramm vorgelegt, das in Bezug auf die künftige Steuerpolitik regelrecht radikal ist. Das Institut der Deutschen Wirtschaft beziffert die Einnahmeverluste bei vollständiger Umsetzung auf rund 90 Milliarden Euro im Jahr. Dass die durch mehr Wachstum und Kürzungen beim Bürgergeld wieder wett gemacht werden können, wie dies Friedrich Merz behauptet, glaubt doch kein Mensch. Da bleiben doch nur radikale Kürzungen in allen möglichen Politikbereichen, beim Bundeszuschuss zu den Renten, bei Förderprogrammen für Länder und Kommunen, bei der Kultur, beim Umweltschutz und so weiter.

WELT: Ein Prozent Wirtschaftswachstum bringt immerhin rund zehn Milliarden Euro Mehreinnahmen.

Bovenschulte: Selbst mit einem angesichts der aktuellen Rahmenbedingungen sehr ordentlichen zusätzlichen Wachstum von ein bis zwei Prozent und einem Bürgergeld, das bis auf das verfassungsrechtlich gebotene Minimum abgesenkt würde, bliebe noch eine Lücke von 60 bis 70 Milliarden Euro. Um die zu schließen, gibt es doch nur zwei Möglichkeiten: Entweder die Union schleift den Sozialstaat, wie wir ihn kennen, oder sie bricht ihr Wahlversprechen und verzichtet auf die angekündigten Steuersenkungen.

WELT: Hat die Union nicht recht, wenn sie sagt, dass der im europäischen Maßstab großzügige deutsche Sozialstaat auf Dauer nur aufrechterhalten werden kann, wenn er eben nicht ausufert?

Bovenschulte: Klar, auch der Sozialstaat muss sich immer wieder die Frage stellen, ob er effektiv, effizient und bezahlbar ist. Aber Pauschalurteile helfen da nicht weiter. Nehmen wir zum Beispiel das Thema Bürgergeld beziehungsweise Grundsicherung. Viele Kritiker behaupten, diese soziale Leistung sei in den letzten Jahren völlig aus dem Ruder gelaufen.

Wenn man aber genauer hinguckt und schaut, wie sich auf der einen Seite die Regelsätze entwickelt haben und auf der anderen Seite die Preise, dann stellt man fest: Inflationsbereinigt liegen die Regelsätze heute kaum höher als vor 20 Jahren. Und die Ausgaben des Staates dafür sind in Relation zum Bruttosozialprodukt sogar gesunken. Gesunken, nicht gestiegen, von 1,8 Prozent auf 1,3 Prozent!

WELT: Dennoch räumt selbst SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich mittlerweile ein, dass die von der Ampel-Koalition durchgesetzte Bürgergeld-Reform in Teilen zu großzügig war, ausgenutzt wird und korrigiert werden sollte. Ziehen Sie mit?

Bovenschulte: Das tue ich. Aber man sollte die Kirche im Dorf lassen. Das Bürgergeld macht 1,3 Prozent vom Bruttosozialprodukt aus, die Leistungsempfänger hatten 20 Jahre lang praktisch keine Kaufkraftsteigerung mehr, und ihre Anzahl ist über die Zeit deutlich zurückgegangen. Aus dem Bürgergeld jetzt ein Thema zu machen, das die Gesellschaft spaltet, und die Bürgergeldempfänger zu den Totengräbern unserer Wettbewerbsfähigkeit zu erklären, ist schierer Populismus und entbehrt jeder Grundlage.

WELT: Dennoch hat auch Ihr Senat gerade eine Kommission eingesetzt, die herausfinden soll, an welcher Stelle Bremen Sozialleistungen kürzen könnte. Haben Sie den Eindruck, dass Ihre Stadt in der Vergangenheit zu großzügig gewesen ist?

Bovenschulte: Wir wollen systematisch prüfen, ob es in Bremen Bereiche gibt, in denen die Ausgaben pro Fall höher liegen als im Bundesdurchschnitt und wenn ja, warum das so ist. Wir werden uns jede einzelne Leistung genau anschauen und dann entscheiden, wo und wie wir effizienter werden können.

WELT: Die Sozialpolitik ist nicht der einzige Bereich, in dem der Bremer Senat genauer hinschauen will als in den vergangenen Jahrzehnten. Auch in der Migrationspolitik legt sich insbesondere Ihr Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) derzeit mit Kirchen und Flüchtlingsorganisationen an, indem er einen härteren Kurs gegen illegale Migration fährt. Stützen Sie diese Linie?

Bovenschulte: Der Innensenator und ich sind uns völlig einig, dass das Kirchenasyl eine wichtige Rolle spielt – im Ausnahmefall. Die Lebenserfahrung zeigt doch, dass es immer wieder mal Härtefälle gibt, die nicht so richtig zu den staatlichen Regelungen passen. Da hat das Kirchenasyl eine ausgleichende Funktion. Aber wie gesagt: Es geht um Ausnahmefälle.

Das Kirchenasyl darf nicht dazu benutzt werden, um auf breiter Front rechtsstaatliche Entscheidungen zu konterkarieren. Zehn Prozent aller Fälle von Kirchenasyl in Deutschland entfielen zuletzt auf das Land Bremen, viele davon betrafen Personen, die vorher gar nicht in Bremen lebten – das kann so nicht bleiben. Kirchenasyl kann immer nur die Ultima Ratio sein.

Korrespondent Ulrich Exner ist bei WELT vor allem für die norddeutschen Bundesländer zuständig.

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