Amerikas BIP ist höher als Europas – die Lebenserwartung nicht | ABC-Z
Wer aus der deutschen Dauerstagnation in die Vereinigten Staaten blickt, der kann leicht neidisch werden. Amerika zeigt den alten Industrieländern Deutschland, Frankreich und Italien schon länger, wie Aufschwung geht.
Anfang der 1990er-Jahre waren das wiedervereinigte Deutschland und die USA noch ungefähr gleich wohlhabend. Heute ist die Wirtschaftsleistung in den USA, pro Kopf gerechnet, um etwa 50 Prozent höher. Jeder Amerikaner erwirtschaftet im Durchschnitt rund 30.000 Euro mehr als die Deutschen. Selbst wenn man berücksichtigt, dass die USA zum Leben inzwischen ziemlich teuer geworden sind, können sich die Amerikaner immer noch rund 20 Prozent mehr leisten als die Deutschen. Das reicht für eine ordentliche Armee, die Putin nicht fürchten muss. Sogar im ärmsten Bundesstaat Mississippi können sich die Menschen mehr kaufen als in Deutschland, rechnete der Ökonom Jacob Kirkegaard unlängst vor.
US-Unternehmen investieren wie die Weltmeister
Der Abstand hat sich seit den 1990er-Jahren allmählich vergrößert. Richtig los ging es aber erst nach der Corona-Pandemie. Die amerikanische Wirtschaft wuchs danach dreimal so schnell wie die der restlichen G-7-Länder. Der Internationale Währungsfonds hat im Oktober hervorgehoben, dass die Volkswirtschaft der USA die einzige unter den großen 20 Volkswirtschaften der Welt sei, die nicht nur auf den alten Wachstumspfad von vor der Pandemie zurückgekehrt sei, sondern ihn sogar übertroffen habe.
Die Motoren dieses Erfolges sind die „glorreichen Sieben“. So werden die Superstar-Konzerne Alphabet, Amazon, Apple, Meta, Microsoft, Nvidia und Tesla genannt. Sie sind an der Börse zusammen 18 Billionen Dollar wert – und damit neunmal so viel wie alle 40 Unternehmen im deutschen Aktienindex Dax.
Die US-Unternehmen glänzen nicht nur dank aufgeputschter Spekulanten. Sie investieren wie die Weltmeister. Die Forschungs- und Entwicklungsausgaben allein dieser sieben Unternehmen übersteigen die Bildungsausgaben in Deutschland. Bund, Länder und Gemeinden gaben dafür voriges Jahr 185 Milliarden Euro aus, die „magnificent seven“ 240 Milliarden Dollar. Amerikanische Konzerne stecken nach einer Analyse des Tech-Experten Oliver Coste rund sechsmal so viel in High-Tech-Investitionen wie ihre europäischen Gegenstücke.
Nicht unbedingt ein wirtschaftliches Vorbild
Mit Künstlicher Intelligenz, Quantencomputern und Mikrochip-Design prägen die Konzerne nicht nur die Zukunft weit über das eigene Land hinaus, sie treiben für sich selbst auch den magischen Wohlstandsgenerator schlechthin an: Produktivität. Die Amerikaner arbeiten nicht nur länger als die Deutschen, sie erwirtschaften in jeder Arbeitsstunde auch noch mehr Wohlstand. „Produktivität ist wie Feenstaub. Sie macht alles besser. Wenn sie zunimmt, kurbelt das das Wachstum an, dämpft die Inflation, lässt die Stundenlöhne schneller steigen und erhöht die Gewinnmargen“, schreibt James Pethokoukis, Forscher im American Enterprise Institute.
Auch für den Wohlstand der kommenden Jahre legen die Amerikaner schon den Grundstein. In der Pandemie ist die Zahl der Existenzgründungen nach oben geschnellt und hoch geblieben. Allein in diesem Jahr hat jeder 50. Amerikaner ein Unternehmen gegründet. Die Quote ist doppelt so hoch wie in Deutschland.
Und doch gelten die USA nicht unbedingt als wirtschaftliches Vorbild für den Rest der Welt, nicht mal bei allen im eigenen Land. „Wie die unternehmerische Arbeitsethik Amerika ausgelaugt hat“, heißt der Untertitel eines Buchs des Harvard-Historikers Erik Baker, das 2025 erscheint. Unternehmen zu gründen und Reichtümer zu erwirtschaften ist anstrengend. „Europa muss nicht bedauern, dass es kein Google hat“, sagt die Yale-Ökonomin Fiona Scott Morton. „Die meisten Digitalplattformen hatten Ärger im Umgang mit Frauen, Rassismus und Mobbing. Manche bezahlen Frauen das Einfrieren der Eizellen, viele Leute halten Kinder und Karriere offenbar nicht für vereinbar.“ An die Europäer gewandt, fragt Scott Morton: „Warum sollten Sie das nicht den Amerikanern überlassen?“
Der gewerkschaftsnahe deutsche Ökonom Jan Priewe hat verschiedene Wohlstandsfaktoren für Deutschland mit den USA verglichen und kam, wenig überraschend, zum Ergebnis, dass Deutschland deutlich besser abschneidet. In den USA sind zwar die Median-Einkommen höher und damit auch der private Konsum. In Deutschland gibt es aber weniger Armut, außerdem sind Work-Life-Balance, Umweltpolitik und Gesundheit besser. Das soziale Netz ist engmaschiger, die Frauen werden im Vergleich zu Männern besser bezahlt, die Ungleichheit ist geringer.
In der Tat: Wer durch die sterbenden Kleinstädte in West-Virginia, Alabama oder Mississippi fährt, zweifelt an den Einkommensstatistiken und wird kaum auf die Idee kommen, dass die Bewohner der Trailerparks und zusammengezimmerten Häuser dort zur globalen Oberschicht gehören. Laut Weltbank leben in den USA 1,25 Prozent der Bevölkerung oder mehr als vier Millionen Menschen von weniger als 2,15 Dollar am Tag; in Deutschland sind es 0,2 Prozent.
Dass in Amerika etwas im Argen liegt, ist nicht neu. Die Forscher Angus Deaton und Anne Case zeigten schon 2020, dass seit den 1990er-Jahren die Sterblichkeitsrate durch Selbstmord, Alkoholmissbrauch und Drogenabhängigkeit unter weißen Amerikaner ohne Collegeabschluss dramatisch gestiegen war. Sie prägten dafür den Begriff „Tod aus Verzweiflung“. Andere Industriestaaten zeigten keine vergleichbare Entwicklung.
Amerikaner sind überraschend sozialdemokratisch
Schlecht ausgebildete Arbeiter leiden demzufolge an den Folgen der Globalisierung, an zerbröckelnden Familien und Glaubensgemeinschaften und an der Bildungskluft, die Leute ohne Collegeabschluss zu einem verkürzten Leben mit geringeren Chancen verurteilt. Man kann die Forschung von Deaton und Case als Plädoyer für einen Sozialstaat lesen, der die Verlierer ökonomischer Trends besser auffängt als der amerikanische Staat.
Selbst der Ausgang der amerikanischen Präsidentschaftswahl ist nicht als breite Unterstützung für eine Laissez-faire-Wirtschaft zu werten, auch wenn die Silicon-Valley-Milliardäre in der Regierung diesen Eindruck vermitteln. Donald Trump gewann die wirtschaftlich Gebeutelten, die sich von seinen Zöllen besser geschützte und entlohnte Arbeitsplätze versprechen, von begrenzter Zuwanderung mehr Chancen für die Einheimischen und von seiner generellen Politik niedrigere Lebenshaltungskosten.
Tatsächlich sind die Amerikaner überraschend sozialdemokratisch. In Umfragen sagen zwischen 60 und 70 Prozent, dass die Regierung eine Krankenversicherung für alle sicherstellen sollte, dass der Mindestlohn deutlich angehoben gehört und dass Reiche und Unternehmen viel mehr Steuer zahlen sollten als bisher.
Europa bestraft das Scheitern
Gibt es denn nichts in der Mitte? Ein System, das die amerikanische Dynamik mit europäischer Absicherung und Lebensqualität versöhnt?
Es gibt viele Vorschläge, wie die Wirtschaft in Europa produktiver werden kann: weniger Bürokratie, mehr Unterstützung für Gründungen aus Universitäten, mehr Mut zu neuen Techniken – und eine Kapitalmarktunion, die fähigen Gründern Geld aus ganz Europa bringt. Vielleicht muss der Blick aber auch bloß Richtung Skandinavien gehen. Und zwar in Sachen Arbeitsmarktpolitik.
Das Problem Europas hat nämlich auch mit dem Arbeitsmarkt zu tun. Analysiert hat es der Franzose Oliver Coste. Er hat wie kein Zweiter die Frage untersucht, warum es in Europa keine Nvidias und Amazons gibt. Sein Ergebnis: Europa bestraft das Scheitern. Wenn Geschäftsprojekte keinen Markt finden, sind die Kosten hier deutlich höher als in den USA. Seinen Untersuchungen zufolge kostet es in Europa bis zu zehnmal mehr, einen Geschäftszweig abzuwickeln, als in den USA oder China.
Coste hat es selbst erlebt als Manager der Firma Alcatel. Sie hatte 200 Millionen Euro in eine neue Technologie für Telekommunikation investiert. Coste war für die Abwicklung zuständig. 1000 Ingenieure in Deutschland, Frankreich und anderen Ländern verloren ihre Stelle. In Deutschland dauerte das aufgrund der Arbeitsschutzgesetze 2,5 Jahre, in Frankreich etwas weniger. Währenddessen war das Unternehmen beschränkt, neue Leute für andere Projekte einzustellen.
In Europa kündigten Technologiekonzerne wie Nokia und SAP jüngst ebenfalls Umstrukturierungspläne an. Nokia will sich von 14.000 Beschäftigten trennen und wird die Umstrukturierung erst 2026 abschließen können, trotz eines schockierenden Gewinneinbruchs. SAP braucht für 8000 Stellen rund 18 Monate weltweit, in Europa mehr als drei Jahre.
Was für ein Kontrast zu Amerika: Hier entließ Microsoft im Januar 2023 rund 10.000 Mitarbeiter, stellte Abfindungskosten in Höhe von 800 Millionen Dollar zurück, was knapp sechs Monatsgehältern je Gefeuertem entsprach. Ähnliche Größenordnungen gaben es bei Entlassungsrunden von Meta (4,2 Monatsgehälter), Google (7,5 Monatsgehälter) und Twitter (drei Monatsgehälter). Das amerikanische Arbeitsrecht erlaubt den Unternehmen radikale Strategieschwenks, wie der schnelle Erfolg des KI-Sprachmodells ChatGPT eindrucksvoll belegte. Microsoft straffte unverzüglich seine Belegschaft und machte gleichzeitig zehn Milliarden Dollar für Open AI locker. Meta fuhr seine Metaverse-Bemühungen zurück, entließ binnen weniger Monate 20.000 Mitarbeiter und erhöhte zugleich seine KI-Investitionen, indem es im Jahr 2024 satte 37 Milliarden Dollar für die Computerinfrastruktur ausgab. Google feuerte 12.000 Mitarbeiter, investierte mehr als 40 Milliarden Dollar in KI-Projekte und stellte Zehntausende von Ingenieuren mit KI-Hintergrund ein.
Erfolgreiche Start-ups kommen vermehrt aus Skandinavien
Der Technologiesektor ist besonders, glaubt Oliver Coste: Vier von fünf Projekten, die von großen Unternehmen begonnen werden, scheitern. Das macht die Kosten für Fehlschläge zum Standortfaktor. Für Wagnisfinanzierer wird Europa unattraktiv, wenn Flops so teuer sind. Innovationen, die zu tiefgreifenden technologischen Umbrüchen führen, finden laut Coste daher zunehmend in Großkonzernen wie den „magnificient seven“ statt.
Was tun? Coste schlägt vor, den Kündigungsschutz stärker nach Gehalt und Ausbildung zu differenzieren. Wer viel verdient und exzellent ausgebildet sei, finde in der Regel schneller einen neuen Job als jene, auf die das nicht zutreffe. Bei gut ausgebildeten Beschäftigten mit einem Einkommen über 50.000 Euro könnte der Kündigungsschutz wegfallen. So ließe sich ökonomische Effizienz mit staatlicher Fürsorge versöhnen. Coste nennt das „Flexicurity“. Es ist das Konzept, mit dem Dänemark seine Arbeitsmarktpolitik schon in den 1990ern reformiert hat.
Auch die Yale-Ökonomin Fiona Scott Morton blickt nach Skandinavien, wo der Kündigungsschutz oft lockerer ist als in Mittel- und Südeuropa, das soziale Netzt die Entlassenen dafür aber besonders gut auffängt. Die wenigen erfolgreichen europäischen Start-ups kommen tatsächlich auffällig oft aus Skandinavien.