Debatte um Fotos von Kindern: Das Leid in Gaza ist real |ABC-Z

Hungersnöte der schwersten Phase 5 herrschen derzeit in Sudan, in Gaza, in Teilen des Südsudans und Haitis. Die Bilder abgemagerter Kinder aus diesen Regionen sind erschütternd, und fast überall wird ihr Leid als das erkannt, was es ist: die Folge von Hunger. Nur in Gaza entzündet sich aktuell eine Debatte, die es so sonst nirgends gibt: Bilder unterernährter Kinder sollen „irreführend“ sein, wenn ihre Vorerkrankungen nicht genannt werden.
Der ärztliche Blick erkennt bei einigen Aufnahmen tatsächlich, dass es sich um vorerkrankte Kinder handelt, die besonders anfällig für Unterernährung sind. Solche Fotos finden sich zahlreich in Kampagnen von Hilfsorganisationen, die gegen den Hunger kämpfen. Die Vorstellung, die Bilder unterernährter Kinder beispielsweise in Äthiopien könnten ohne Hinweis auf Vorerkrankungen irreführend sein, erschien mir bisher absurd.
Doch nun wird tatsächlich darüber debattiert, ob die Darstellung kranker Kinder die Lage überdramatisiere. Dabei sind einzelne Bilder weder die Grundlage für die Lageeinschätzung noch Basis der Berichterstattung über die Hungersnot in Gaza. Das Gesamtbild ergibt sich aus übereinstimmenden Berichten von mehr als 100 Hilfsorganisationen, der Weltgesundheitsorganisation, der UN, israelischen Nichtregierungsorganisationen, Betroffenen und Journalisten an Ort und Stelle. Es gibt keine ernsthaften Zweifel am Vorliegen einer schweren Hungersnot.
Extreme Abmagerung ist untypisch
In den jüngst diskutierten Aufnahmen von Kindern sind deren Vorerkrankungen zwar ein Risikofaktor für Unterernährung, bei guter Versorgung jedoch sehen sie völlig normal ernährt aus. Ich betreue als Lungenfacharzt auch Patienten mit Mukoviszidose. Der Fall eines Jungen mit Mukoviszidose, der gerade an vielen Stellen als Beispiel für vermeintlich „irreführende“ Fotos dient, weil seine Erkrankung in einer italienischen Zeitung nicht genannt wurde, ist ein gutes Beispiel dafür.
Mukoviszidose führt zu zähen Sekreten in Lunge und Verdauungstrakt. Betroffene Kinder sind anfälliger für Infekte und Unterernährung bei Mangelversorgung. Doch extreme Abmagerung mit sichtbaren Knochen und fehlendem Fettgewebe ist für diese Erkrankung untypisch und entspricht definitionsgemäß schwerer Unterernährung, unabhängig von der Grunderkrankung. Äußerlich kann man einem gut versorgten Kind die Mukoviszidose nicht ansehen.
Dass der Junge inzwischen in Italien mit besserer Versorgung in einem völlig anderen Zustand ist, bestätigt: Nicht die Krankheit allein, sondern Hunger und Blockade von Hilfe waren entscheidend für seinen Zustand. Das Bild entstand vor Wochen, als der Mangel längst Realität war. Die Lage hat sich seitdem nur zugespitzt. Der Vorwurf, die Aufnahme sei „irreführend“, weil die Vorerkrankung nicht genannt wurde, greift nicht, denn die Erkrankung an sich erklärt keinesfalls den grotesken Zustand des Kindes. Keiner meiner Patienten sah auch nur annähernd so aus.
Auch ein Kind mit infantiler Zerebralparese (ICP), das gut ernährt und medizinisch versorgt wird, sieht nicht so aus wie der Junge, der kürzlich auf vielen Titelseiten zu sehen war, was jetzt ebenfalls kritisiert wird. Kinder mit ICP sind zweifellos schwieriger zu versorgen und in Krisengebieten besonders anfällig für Unterernährung. Aber die Krankheit allein erklärt ein so extremes Auszehrungsbild nicht. Daher ist es legitim, dieses unterernährte kranke Kind als Symbol für die Hungersnot zu zeigen, denn es macht sichtbar, wie sehr der Hunger die Schwächsten trifft.
Hungersnöte treffen zuerst die Schwächsten
Hungersnöte treffen eben zunächst die Menschen, die am anfälligsten für Unterernährung sind, zum Beispiel kranke Kinder. Ihr Zustand ist real und keine „Übertreibung“. Dabei definiert sich eine Hungersnot nicht durch dramatisch ausgemergelte Körper, sondern durch den Mangel an Nahrung. Nach einigen Tagen Hunger baut der Körper statt Zucker und Fetten auch Proteine aus Muskeln und Organen ab. Muskeln schrumpfen, Herz und Atemmuskulatur werden schwächer, die Leber schrumpft, Darmzotten verkümmern, Organe versagen. Beim Hungertod können noch Fettreserven existieren.
Für Fachleute ist es sinnvoll zu wissen, wer bei einer Hungersnot gerade am schwersten betroffen ist, um das Stadium zu beurteilen: In der Regel sind zuerst die kranken Kinder am stärksten gefährdet, gefolgt von gesunden Kindern und Erwachsenen. Informationen über Vorerkrankungen sind daher wichtig, aber nicht, um das abgebildete Elend zu relativieren. Was viele außerdem übersehen: Die meisten sichtbar vorerkrankten Kinder in Krisengebieten sind nicht krank im Sinne einer genetischen Störung, auch nicht in Gaza. Weitaus häufiger sind Entwicklungsstörungen, die durch äußere Faktoren entstanden sind, und das oft bereits im Mutterleib.

Kinder mangelernährter Mütter, die in Krisengebieten zur Welt kommen und wenig Zugang zu medizinischer Versorgung haben, entwickeln häufig Wachstumsstörungen, neurologische Defizite und Fehlbildungen und sind besonders anfällig für Infektionen und Hunger. Solche Merkmale werden in der aktuellen Debatte oft vorschnell als „Erbkrankheiten“ fehlgedeutet. Tatsächlich sind sie aber selbst Ausdruck einer jahrzehntelangen schlechten medizinischen Versorgung. Diese Erkrankungen als ein Argument gegen das Vorliegen einer humanitären Not zu nutzen, ist allein schon deshalb unethisch.
Kinder mit neuromuskulären oder autoimmunen Erkrankungen können tatsächlich ein mageres Erscheinungsbild haben. In sozialen Medien wurden solche Aufnahmen zu Beginn des Krieges auch propagandistisch missbraucht. Doch die Versorgungslage konnte eine Unterernährung damals nicht erklären, und entsprechend waren diese Bilder in seriösen Medien kein Thema. Die Lage hat sich seitdem geändert. Heute sind gerade diese vulnerablen Kinder am schwersten durch Hunger bedroht.
Das Leid ist menschengemacht
Man kann nur den Kopf schütteln, wenn nun die Opfer einer humanitären Katastrophe nach möglichen Vorerkrankungen durchforstet werden. Der Vorwurf, kranke Kinder würden instrumentalisiert, lässt sich umdrehen: Ihre Erkrankungen werden instrumentalisiert, um den Hunger in Gaza kleinzureden. Aus einer Flut von Berichten und Bildern einige unvollständig kontextualisierte Aufnahmen herauszugreifen, um die Lage insgesamt infrage zu stellen, ist genau das, was die Kritiker Medien vorwerfen: Irreführung.
Die aktuelle Debatte lenkt den Blick weg von der politischen Verantwortung und verengt ihn auf die individuellen Schicksale einzelner Kinder. Das Bebildern einer Berichterstattung über eine schwere Hungersnot mit Aufnahmen kranker Kinder ist völlig legitim, vorausgesetzt, die Bilder zeigen tatsächlich Zeichen von Unterernährung und nicht ausschließlich Auswirkungen der Grunderkrankung. Unterernährte Kinder mit Vorerkrankungen sollten nicht weniger Erschütterung auslösen als unterernährte gesunde Kinder. Sie haben dasselbe Recht auf Leben, Nahrung und Würde.
Das Wissen um Vorerkrankungen mag für Entscheider, Mediziner und Fachleute relevant sein, schmälert aber in keiner Weise die Dramatik der abgebildeten Situation. Diese Kinder sind real, ihr Leid ist menschengemacht – und die Welt hat ein Recht, das zu sehen.