Kultur

Alle Straftäter kommen aus Gefängnis frei | ABC-Z

Träumt weiter, Sozialromantiker. Die Zeiten sind nicht danach. Oder doch? Die achtteilige „Social Fiction“-Serie bringt ihr (fiktives) Talkshowformat am Anfang und am Ende handlungsflankierend gleich selbst mit. In „Framm – Die Debatte“ fragt die Moderatorin Ann-Marie Framm (Karin Hanczewski) nach. „Naive Utopie oder wegweisendes Experiment?“, will sie von der aus Wien angereisten Juraprofessorin Petra Schach (Maria Hofstätter) und vom Bürgermeister des Ruhrgebietsorts Rheinstadt, Amir Kaan (Steven Sowah), wissen.

Vor Studiopublikum nimmt sie die beiden in die Mangel. Ob man sich das wirklich gut überlegt habe, die Pforten der Justizvollzugsanstalt ausnahmslos für alle verurteilten Straftäter, auch Schwerverbrecher, zu öffnen? Wie dieses radikale Resozialisierungsexperiment funktionieren könne und was mit dem Sicherheitsbedürfnis der Bürger sei? Gehe man nicht blauäugig davon aus, dass Verbrechen bloß auf Umständen beruhten? Alles gut bedacht, so die Antwort. Das Programm „Trust“ begleite den Versuch, Inhaftierungen abzuschaffen. Therapien, Wohn- und Arbeitsplätze seien organisiert, um den 300 entlassenen Tätern ihren Weg in die Gesellschaft zu ebnen. Personal sei vorhanden, 70 Prozent der Rheinstädter seien dafür. Den Rest hoffe man zu überzeugen. Nesrin Gül (Alev Irmak) rastet im Studiopublikum aus. Denn auch der rechtsradikale Klaus Bäumer (Richard Sammel) soll freikommen, der Mörder ihres Sohnes. Genau wie Jens Föhl (Ulrich Brandhoff) herauskommen soll, ein pädophiler Sexualstraftäter.

Gedreht wurde in Leverkusen

Als die „Knackis“ in Bussen vor die Zentrale von „Trust“ gefahren werden, schwenken Bürger Luftballons und applaudieren wie verrückt. Sozialarbeiter, Psychologen und Alltagshelfer stehen an trostlosen Verwaltungsgebäuden – gedreht wurde in Leverkusen – in großer Zahl parat, ausländische Presse hat Stellung bezogen. Die Theoretikerin Schach nimmt den Mörder Bäumer selbst mit nach Hause. Später lässt sich Kaan mit einem Titelbild der „Washington Post“ als Mann der liberalen Zukunft feiern.

Hielte die Serie „A Better Place“ hier inne, könnte man die von Headautor Alexander Lindh und Ko-Autorin Karin Kaçi (sowie weiteren „Writer’s Room“-Teilnehmern) geschriebene Serie als provozierende Bebilderung von Thesen umstandslos zu den Akten der Fernsehfiktion legen. Als öffentlich-rechtliche Kopfgeburt aus dem Geist der Debatte über den Sinn von Freiheitsstrafen. Schon im 18. Jahrhundert entstand die Abolitionismus-Bewegung, im Kampf gegen die Sklaverei. Vorläufiges Ergebnis des Streits hierzulande: Ziel des Rechts ist Resozialisierung, Freiheitsstrafe ihr Mittel, Gefängnis ihr Ort.

Wer die erste Folge mit ihrem plakativen Aufriss und den Finten der Dramaturgie durchhält, gerät von da an in zunehmend differenzierende Nebenstränge. Täter- und Opferperspektiven werden individualisiert. Statt um Thesen auf zwei Beinen geht es um Menschen. Es beginnt damit, dass auch die „Trust“-Psychologin am Sinn der Entlassung von Schwerverbrechern zweifelt, dass eine „Trust“-Mitarbeiterin (Sandra Borgmann) mit verzweifelten Opfern in Kontakt kommt, die Liste der Verurteilten an die Presse durchgestochen wird, dass Leute auf Social Media Pranger einrichten, sich eine „Bürgerwehr“ unter Führung eines Aufwieglers (Aljoscha Stadelmann) formiert. Neue Verbrechen werden begangen, die Justizministerin (leider fehlbesetzt: Cordula Stratmann) verordnet elektronische Fußfesseln, das Experiment droht aus dem Ruder zu laufen.

Es gelingen der Inszenierung von Anne Zohra Berrached und Konstantin Bock wie der genauen Kamera von Matthias Fleischer mehr und mehr auch leisere Momente in individuellen Einzelgeschichten. Wie der Eva Blums (Katharina Schüttler), die nicht nur „Trust“-Betreuerin ist, sondern Ehefrau eines Straftäters. Was Mark (Johannes Kienast) getan hat, bleibt lange unklar. Die Kinder sind verunsichert wie ihre Eltern. Schüttler und Kienast spielen stark, genau wie Youness Aabbaz als Nader Massad und Aysima Ergün als seine Schwester Yara. Fest entschlossen, sein Leben in den Griff zu bekommen, beginnt Nader eine Ausbildung und verliebt sich. Yara begreift es nicht, genauso wenig wie die alte Südstadtclique. Ergreifend spielt aber vor allem Alev Irmak als Mutter des vom freigelassenen Bäumer ermordeten Jungen. Für sie kommt ein Opfer-Täter-Ausgleich-Prozess um keinen Preis infrage. Keineswegs ist in „A Better Place“ alles gut zum Schluss. Was anfangs nicht nach Fernsehen zum Selbstdenken aussieht, gewinnt über acht Folgen mit überzeugend gezeichneten Figuren, nachvollziehbaren Entwicklungen in ausnehmend viel erzählter Zeit erheblich.

Die Folgen von A Better Place laufen heute ab 20.15 Uhr und am 24. Januar ab 22.20 Uhr im Ersten und sind in der ARD-Mediathek abrufbar.

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