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Album „Hymnal“ von Lyra Pramuk: An der Sonne lecken | ABC-Z

Es gibt einen Moment im Roman „Die Angestellten“ der dänischen Autorin Olga Ravn, an dem man sich fragt: Was ist mit der Erde passiert, und wieso ist sie noch menschlich? Die Handlung spielt auf einem Raumschiff, besteht aus Verhörprotokollen mit undurchsichtigen Prot­ago­nis­t:in­nen, und je länger man liest, wie sie ihren Alltag schildern, desto mehr verschwimmt das Menschliche zum Humanoiden. Ähnlich verhält es sich mit „Hymnal“, dem neuen Album der in Berlin lebenden Musikerin Lyra Pramuk.

Neben vielen anderen Ebenen blitzt in der Musik der US-Transkünstler:in auch die Suche nach dem Menschlichen im Unmenschlichen auf. Dazu muss man wissen: Pramuk, die auch schon im KI-Chor ihrer kontroversen US-Kollegin Holly Herndon mitsang, ist eine Meis­te­r:in von Stimmverfremdung. Bei Pramuk wird Flüstern bisweilen zum sonoren Zischeln umgemodelt, so dass eine ungehörte Klangsignatur entsteht, ein stimmhaft gesungenes „Ah“ wird dergestalt zum geisterhaften Klagelaut.

Pramuk injiziert ihrer eigenen Stimme gern Verfremdungseffekte, lässt einzelne Fragmente dann Schicht um Schicht überlagern und schafft auf diese Weise fragile Skelette, die innerhalb von Sekunden wieder in sich zusammenfallen. Die Stimme wird bei Pramuk in erster Linie als Leitmotiv und Instrument eingesetzt. Pramuks Soundpalette bewegt sich auch auf dem neuen Album immer entlang der Grenze des menschlich Erzeugbaren und markiert zugleich eine Art Übergangs­ritus hin zum Humanoiden.

Während in Ravns Roman jedoch der Blick vom All zurück auf die Erde gerichtet wird, passiert in der Musik von „Hymnal“ das Gegenteil. Das Album werfe, sagte Pramuk im Vorfeld, auch einen astrologischen Blick auf die Welt. Man kann das als esoterisches New-Age-Gehabe abtun – oder diese Perspektive ernst nehmen, so wie Pramuk selbst.

Das Album

Lyra Pramuk: „Hymnal“ (7K! Records/pop.soil)

Und so lässt sich mit ihr fragen: In welcher Beziehung stehen wir Menschen zu den Planeten im Weltraum? Warum auch nicht, in Zeiten, in denen größenwahnsinnige Tech-Milliar­däre aus Silicon Valley schon längst ihre Claims auf dem kolonisierten Mars abstecken, nachdem sie sich die Erde untertan gemacht haben?

Pflanzen beim Sprießen zuhören

Pramuk dockt an Gedanken der Zerstörung an, und im besten Fall strebt sie nach Wiederbelebung. In ihrer Musik kommt nicht nur etwas Science-Fiction-haftes zum Vorschein, sondern auch etwas zutiefst Weltliches. Vielleicht ließe sich die ­Musik als zukunftsträchtiges Nature Writing beschreiben. Während die Stimmen Unverständliches stöhnen, meint man direkt im Auftaktsong „Rewild“ ­Pflanzen beim Sprießen zuzuhören.

„Rewild“, das bedeutet so viel wie Renaturierung und birgt die Sehnsucht danach, das Zerstörte wiederherzustellen. Die Grundlage dafür – den Wachstumsprozess von Stängeln und Knospen hörbar zu machen – liefern Pramuk Streicherarrangements des Sonar Quartetts. Auch das ist in einer Zeit, in der Bach-, Beethoven- und Strawinsky-Musik ins All geschossen wurde, nur folgerichtig.

Rein musikalisch betrachtet, lotet Pramuks Musik Grenzen im Wechselspiel zwischen Stimminszenierungen und Streicherarrangements aus. Auf „Babel“ fiept und röhrt es, im Hintergrund ertönt taktvolles Klatschen, unverständliches Surren und ein alles überlagernder Bass, der immer bedrohlicher klingt, je länger man ihn ertragen muss. Bei „Gravity“ entsteht schließlich sogar eine Art Endzeitatmosphäre, die sich Klangschicht um Klangschicht aufbaut – aus immer lauter werdendem Fiedeln und Röhren.

Zwischen diesen beiden Songs lichtet sich der Himmel, gibt den Blick frei auf Sonnenstrahlen. Streicher erklingen auf „Meridian“ plötzlich wieder affirmativ, und Pramuk singt zumindest kurzzeitig verständlich. Ihr Songtext als stotterndes Lautgedicht: „Licking the Sun / Licking the soil“. Die performative Verbindung zwischen Mensch, Sonne und Erde als versöhnlicher Moment. Auch darum könnte es in letzter Instanz in dieser tollen Soundlandschaft namens „Hymnal“ gehen.

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