Albrecht Weinberg: „Meine Eltern sind von Deutschen ermordet worden“ | ABC-Z

Albrecht Weinberg war 18 Jahre alt, als ihn die Nationalsozialisten 1943 nach Auschwitz deportierten. Er überlebte drei Konzentrationslager und wurde schließlich im KZ Bergen-Belsen befreit. Seine Eltern und fast seine gesamte Familie wurden im Holocaust ermordet.
Im Jahr 2012 zog Weinberg zurück nach Deutschland und klärt seitdem unablässig über den Holocaust auf. Für seine Versöhnungsarbeit bekam er 2017 das Bundesverdienstkreuz verliehen. An dem Vormittag, als im Bundestag über das „Zustrombegrenzungsgesetz“ abgestimmt werden soll, sitzt der 99-Jährige neben seiner Mitbewohnerin am Küchentisch. Per Videocall erklärt er, warum er es nun wieder zurückgeben möchte.
ZEIT ONLINE: Herr Weinberg,
warum geben Sie Ihr Bundesverdienstkreuz zurück?
Albrecht Weinberg: Weil die
Rechtsradikalen in Deutschland wieder die Macht übernehmen. Da muss ich doch
den Mund aufmachen.
ZEIT ONLINE: Was haben Sie
gedacht, als Sie am Mittwoch von dem Ergebnis der Abstimmung im Bundestag
erfahren haben, in der ein Antrag der CDU zur Migrationspolitik mit den Stimmen der AfD angenommen wurde?
Weinberg: Ich habe gedacht,
dass es wieder losgeht.
ZEIT ONLINE: War es eine besondere Taktlosigkeit, dass diese
Abstimmung, bei der die Zustimmung der AfD im Bundestag erstmals in Kauf
genommen wurde, an dem Tag stattfand, als kurz zuvor des Holocausts gedacht
wurde?
Weinberg: Ja. Und es zeigt
mir wieder einmal, dass ich als Jude keinen Platz habe in der Welt. Auf uns
wird keine Rücksicht genommen. Diese
Abstimmung hat mich sehr enttäuscht.
ZEIT ONLINE: Sie haben Ihr
Bundesverdienstkreuz 2017 für Ihr Engagement in der Bildungsarbeit bekommen,
für die Aufklärung, die Sie über den Holocaust leisten. Was hat Ihnen diese
Auszeichnung bedeutet?
Weinberg: Ich war damals sehr
überrascht, dass ich als ehemals verfolgter deutscher Bürger ein
Bundesverdienstkreuz bekomme. Ich habe mich sehr gefreut und es kaum glauben
können, nach allem, was mir in Deutschland passiert ist. Seit 15 Jahren arbeite
ich mit Schülern und Jugendlichen hier in der Umgebung zusammen. Und ich habe
gedacht, dass etwas hängen bleibt und dass es etwas bedeutet, wenn man davon erzählt,
wie es anfängt. Und nun wählen aber auch immer mehr junge Menschen die AfD. Es
war alles umsonst.
ZEIT ONLINE: Wofür steht die
AfD?
Weinberg: Für Hass. Und ich
frage mich, wo der Hass herkommt. Damals wie heute. Deutschland war ja
auch in den Dreißigerjahren keine Bananenrepublik. Alle konnten lesen und
schreiben. Und trotzdem sind Juden verfolgt und schließlich ermordet worden.
ZEIT ONLINE: Fühlen Sie sich
bedroht in Deutschland?
Weinberg: Absolut. Auch schon
vor dem gestrigen Tag. Der Antisemitismus ist wieder auf dem Vormarsch. Ich
habe Polizeischutz, die Polizei fährt regelmäßig an unserem Haus vorbei und
schaut, ob alles in Ordnung ist. Ich bin nicht gläubig, aber wenn jüdische
Gemeinden Gottesdienst feiern wollen, muss ein Polizeiauto vor der Tür stehen. Daran
können Sie sehen, dass sich nicht viel geändert hat.
ZEIT ONLINE: Sie
haben die Konzentrationslager Auschwitz, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen
überlebt. Dann sind Sie 1947 gemeinsam mit Ihrer Schwester in die USA
ausgewandert und 2012 erst nach Deutschland zurückgekehrt. Wie würden Sie Ihr
Verhältnis zu Deutschland beschreiben?
Weinberg: Meine Schwester
und ich sind 2012 aus einer Notsituation heraus wieder nach Deutschland
gekommen. Wir hatten das eigentlich immer ausgeschlossen. Aber meine Schwester
war schwer krank und die Stadt Leer bot uns Hilfe an. Und das haben wir
angenommen.
ZEIT ONLINE: Ist Deutschland wieder eine Heimat
für Sie geworden?
Weinberg: Nein, wie könnte es
wieder eine Heimat sein, nach allem, was man mir hier angetan hat? Meine Eltern
sind von Deutschen ermordet worden. Nicht nur die Mörder selbst haben das zu
verantworten, sondern ganz Deutschland. Das kann ich nicht vergessen, auch wenn
es mir heute hier gut geht und ich einen großen Bekanntenkreis habe. Ich hatte gehofft, dass Deutschland auf einem anderen Weg ist.
ZEIT ONLINE: Fühlen Sie sich an Ihr eigenes Schicksal erinnert, wenn Sie sehen, wie heute in Teilen
der Politik über Geflüchtete geredet wird?
Weinberg: Ich habe es als
Kind miterlebt, dass man uns an Grenzen aufgehalten hat. Viele der Menschen,
die heute nach Deutschland kommen, sind anständige Leute, die vor Hunger oder
Krieg flüchten. Sie wollen nur in Frieden leben, wie jeder Mensch. Aber ein
fauler Apfel macht den ganzen Korb kaputt. Es gibt wohl Leute, die glauben, es
sei eine Art Ehre jemanden zu töten. Das ist unglaublich. Natürlich darf
niemand andere Menschen umbringen.
ZEIT ONLINE: Wo haben Sie Ihr Bundesverdienstkreuz bislang
aufbewahrt?
Weinberg: Im Schrank. Ich habe es gestern zusammen mit
meiner Urkunde herausgeholt, damit ich es Bundespräsident Steinmeier, dem ich
schon mehrfach persönlich die Hand gegeben habe, zurückgeben kann.
ZEIT ONLINE: Hat
er sich schon bei Ihnen gemeldet?
Weinberg: Ja, er will mit mir
sprechen.
ZEIT ONLINE: Können Sie sich vorstellen, Ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken?
Weinberg: Natürlich können
wir uns an einen Tisch setzen. Dann kann er seine Meinung erläutern und ich
sage meine Meinung und vielleicht kommen wir zu einem Ergebnis, das akzeptabel
ist.
ZEIT ONLINE: Wissen Sie schon, wann Sie ihn treffen werden?
Weinberg: Nein. Sein Büro hat
vorgeschlagen, dass ich nach Berlin komme. Aber ich bin fast 100 Jahre alt. Ich
gehe jetzt nicht nach Berlin, auch nicht, wenn mich einer trägt. Vielleicht
können wir uns irgendwo in der Mitte treffen.