Kultur

Alain Damasios Roman Die Horde im Gegenwind | ABC-Z

Was bläst denn da? Ist es der milde Slamino, der trockene Stesch, der wütende Blaast, der eisig beißende Crivetz oder schon der alles zermalmende, die Haut abschmirgelnde Grimmwind? All diese Bezeichnungen kommen im Wetterbericht nicht vor. Dafür wird man beim Lesen dieses Romans bald vertraut mit ihnen. Es ist ein Buch, das so viel Wind macht wie kein anderes Werk der Literaturgeschichte. In Frankreich hat es vor zwanzig Jahren die Bestsellerlisten gestürmt, eine halbe Million Exemplare haben sich verkauft. In Deutschland ist Alain Damasios Epos „Die Horde im Gegenwind“ bisher weitgehend unbekannt geblieben, was auch an den Herausforderungen der Übersetzung gelegen haben mag. Nun aber hat der Verlag Matthes & Seitz nach „Die Flüchtigen“, dem jüngsten Roman des 1969 in Lyon geborenen Autors, auch dessen frühes Hauptwerk herausgebracht.

In der postapokalyptisch anmutenden Welt ist der virtuos beschriebene Wind das Maß aller Dinge. Er bläst mächtig und unaufhörlich und immer aus einer Richtung. Den Ursprung dieser ebenso de­struktiven wie schöpferischen Kraft zu finden – das ist die Mission der Horde, von der der Roman erzählt. Es ist bereits die 34., alle anderen Horden zuvor sind gescheitert, verschollen oder immer noch unterwegs. Es handelt sich bei der Horde um eine hoch spezialisierte Elitetruppe, die in jahrhundertealter Tradition ihr ganzes Leben dem Kontermarsch gegen den Wind gewidmet hat. Denn er dauert Jahrzehnte, der Weg zum mysteriösen „Fernstromauf“ jenseits der erkundeten Welt.

Endlose Einöden und verwüstete Dörfer

Viele Prüfungen, Abenteuer, Versuchungen sind in dieser widrigen Welt zu bestehen. Es gibt endlose Einöden und verwüstete Dörfer, in denen verängstigte Überlebende in zugewehten Brunnen hocken. Aber auch eine phantastische Luft-Stadt wie Alticcio mit ihren schwebenden Plätzen, Windrädern, Kathedralen und Türmen, zwischen denen Äolikopter, Flugräder und Luftbarken herumschwirren. So surreal das anmutet – Alticcio ist von sehr realen Klassenkämpfen bestimmt. Nebenbei: Alain Damasio hat sich auch als Fürsprecher der Gelbwesten-Bewegung einen Namen gemacht.

Edgar Allan Poes Monsterstrudel hat auch Alain Damasio angesaugt: J. Nashs Illustration von 1883 zu der Erzählung „Eine Fahrt in den Maelstrom“Picture Alliance

Halluzinatorisch wird die Begegnung der Horde mit dem Luftschiff der Freolen ausgemalt, einem gewaltigen fünfmastigen Segler, der auf Windströmen und Luftkissen gleitet. In der Mitte des Romans lauert die „Lapsaner Lache“, ein tückisches Meer, das die Horde monatelang durchschwimmen und durchwaten muss. Zu seinen vielfältigen Schrecken gehören die „Siphons“ – Monsterstrudel mit kreisförmig rasenden Wasserwänden, die Mensch und Materie einsaugen wie ein schwarzes Loch. Edgar Allan Poes „Mael­strom“ hat hier literarisch-hydrologische Spuren hinterlassen.

Die Philosophie des Windes

Ständig wechselt die Erzählperspektive. Jedem der 23 Hordenmitglieder ist ein Symbol zugeordnet, das ihn oder sie als Sprecher eines Abschnitts ausweist. Auch durch den Stil werden die unterschied­lichen Erzähler-Charaktere profiliert. Der gedrungene „Spurter“ Golgoth, der Böenbrecher an der Spitze der Horde, bevorzugt ein kraftvolles, grobianisches Idiom. Der Fürst Pietro Della Rocca, das Horden-Oberhaupt, neigt zu einer distinguierteren Ausdrucksweise. Der Hordenschreiber Sov Strochnis versteht sich auf die Philo­sophie des Windes, und die Aeromeisterin Oroshi Melicerte kann Turbulenzen, Anströmwinkel, Wirbelschleppen und Strömungsabrisse lesen wie niemand sonst. Zum Jägerlatein neigt der Luftfischer Larco, der mit seinen fliegenden Fallen die im Wind schwebenden „Medusen“ fängt. Witz und Wortspiele sind die Kennzeichen des Horden-Troubadours Caracole. Bei so vielen Typen und Talenten sind Konflikte und Rivalitäten vorprogrammiert.

Zum Kodex der Horde gehört es, keine Fahrzeuge zu verwenden. Nur eine authentische Horde, die zu Fuß mit dem Körper kontert, kann durch die die jahrelangen Strapazen die mentale Stärke entwickeln, auch die letzten Torturen zu ertragen. Die Festigkeit der Tradition ist allerdings gefährdet. Gerüchte irritieren die Horde. Gibt es womöglich gar kein „Fernstromauf“, keinen Ursprung des Windes, keinen Anfang von allem? Es heißt, dass weit hinten in Aberlaas, von wo alle Horden einst aufgebrochen sind, die Glorie der Horden schon verblasst sei und kaum noch ein junger Mensch davon träume, Spurter, Hordenschreiber oder Aeromeisterin zu werden. Nicht nur gegen den Wind muss die Horde kämpfen, sondern auch gegen Intrigen. Offenbar haben nicht alle im „großen Hordnungsrat“ von Aberlaas ein Interesse daran, dass die Horde ans Ziel kommt.

Zwischen Mittelalter-Epen und Nietzsche

„Die Horde im Gegenwind“ ist ein phantastischer Abenteuerroman, zugleich aber auch ein Spiel mit mythischen und religiösen Narrativen. Mit seiner eigenwilligen Bildwelt gelingt es Damasio, das allergrößte Menschheitsthema neu zu erzählen: die Suche nach dem Anfang und dem Sinn der Welt als Frage nach dem Woher und Warum des Windes. Im Roman entwickeln Gelehrte dafür verschiedene Erklärungen: Ist der Wind aus einer gewaltigen uranfänglichen Explosion entstanden? Kommt er aus dem abgrundtiefen Rachen eines schnarchenden Gottes? Oder verursachen ihn mythische Elefanten mit ihren Riesenohren?

Alain Damasio: „Die Horde im Gegenwind“. Roman.Matthes & Seitz

Zum einen inszeniert Damasio eine Heldenreise im Stil mittelalterlicher Epen, als große „Quest“, zum anderen unter­füttert er die Handlung mit Nietzsche und poststrukturalistischer Theorie – für diejenigen, die solche Zeichen lesen wollen. Die tiefere Ebene ist in diesem Roman vorhanden, man muss sie aber nicht zu ernst nehmen. Alain Damasio vergnügt sich mit hybrider Wissenschaft, die mit klangvollen Worten phantastische Phänomene veranschaulicht, wie die „Chronosetasche“, in der sich der Fluss der Zeit verändert. Er erfindet windenergetische Windbeuteleien und Neologismen wie die „Hordnung“ oder die strafwürdige „Deshordination“.

Sehr zu loben ist die Übersetzung von Milena Adam, die sich Damasios Sprachspielen gewachsen zeigt. Das beweist insbesondere das komische Kapitel über den Dichterwettstreit vor der „Heul’schen Pforte“. Der Exarch von ­Alticcio will der Horde nur Zugang zu diesem Passdurchgang (der nichts anderes als ein mörderischer Windkanal ist) gewähren, wenn der Troubadour der Truppe zuvor gegen den Superdichter der City antritt, den eingebildeten Säulenheiligen Sélème. Bei der kuriosen Reim-Battle könnte der Witz des Originals leicht auf der Strecke bleiben – umso staunenswerter, wie Milena Adam ihn ins Deutsche transferiert.

Es gibt eine mehrbändige Comic-Adaption des Romans vom Zeichner Eric Henninot (die deutsche Ausgabe ist erschienen im Bielefelder Splitter-Verlag), und fast könnte man sagen, dass Damasio mit der wuchtig-opulenten Bildwelt des Romans bereits nach der Dramaturgie eines Comics erzählt hat. Überhaupt liebt er visuelle Spiele. Mit den Symbolen der 23 Horden-Mitglieder wird gelegentlich deren aktuelle Formation im Windkampf abgebildet, und es gibt eine Art Notation des Windes; eher ein Gag ist die rückwärts laufende Seitenzählung.

Die zunehmend dezimierte Horde erreicht schließlich den Supervulkan Kravla, der nicht Lava ausstößt, sondern Wind von solcher Kraft, dass er Lawinen bergauf bläst. Und dazu messerscharfe Glassplitter, wobei auch das Glas nach den ­eigens für diesen Roman erfundenen Naturgesetzen nichts als hoch komprimierter, hyperdichter Wind ist. Aber nicht nur eine eigene Physik, auch eine Metaphysik entwickelt Damasio in diesem Werk. Ihr zentraler Begriff ist die „Schift“, die sich nur unzulänglich umschreiben lässt mit der Seele, dem „Lebenswind“, der „Energie“ oder „vitalen Potenz“ eines Menschen. Jedenfalls etwas, das nach dem Tod weiterwirkt. Je mehr Opfer die Horde zu beklagen hat, desto mehr Schifte begleiten und unterstützen die Übriggebliebenen auf ihrem immer schwierigeren Weg. Es ist eine weitere Dimension des Phantastischen, die die Handlung überwölbt.

Im Finale kulminieren Spiritualität und Action. Das ist bisweilen nicht leicht zu lesen, aber es gibt keinen Strömungsabriss der Spannung – bis zum kleinen, effektvoll-ironischen Schlussakkord. „Die Horde im Gegenwind“ ist ein Meisterwerk der Phantastik, eine Lektüre, die bleibenden Eindruck hinterlässt.

Alain Damasio: „Die Horde im Gegenwind“. Roman. Aus dem Französischen von Milena Adam. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2024. 720 S., geb., 34 Euro.

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