Aktivist über Frieden im Nahen Osten: „Will Herzl für Palästinenser sein“ | ABC-Z
Ahmed Fouad Alkhatib ist Menschenrechtsaktivist. Hier spricht er über die Lage in Gaza und einen Weg zur Zweistaatenlösung.
taz: Herr Alkhatib, Sie setzen sich als palästinensischer Autor und Aktivist für Frieden und Versöhnung zwischen Israelis und Palästinenser*innen ein – und dafür, dass beide Seiten ihre Narrative über die jeweils andere Seite überdenken. Wie einsam fühlen Sie sich in diesen Tagen seit dem 7. Oktober?
1990 in Saudi-Arabien geboren, ist Senior Fellow der Denkfabrik Atlantic Council in Washington, Aktivist und Autor. Er schreibt über die politische und humanitäre Lage im Gazastreifen.
Ahmed Fouad Alkhatib: Es kann sich unglaublich einsam in diesem Niemandsland anfühlen, in dem ich mich bewege. Aber gleichzeitig kann ich sagen, dass viele Menschen auf beiden Seiten meine Ansichten und Überzeugungen teilen, sich aber nicht trauen, sie zu äußern, weil es schwierig ist, die eigene Gemeinschaft und die eigenen Leute herauszufordern. Ich selber werde permanent von Leuten auf beiden Seiten angegriffen. Die Pro-Palästina-Aktivisten haben einen sehr eingeengten Blick. Auf der anderen Seite befördern die Pro-Israel-Leute ein ebenso isoliertes Narrativ – mit ihren eigenen Wahrnehmungen von Palästinensern und falschen Vorstellungen über den Konflikt.
taz: Sie kommen selbst aus Gaza, die Häuser Ihrer Kindheit sind zerstört und Sie haben im Krieg mehr als 30 Familienmitglieder verloren. Wie kann man es bei einem solchen Verlust schaffen, nicht zu hassen?
Alkhatib: In meinen Augen kann ich das Vermächtnis meiner Familienmitglieder ehren, indem ich aus dem Teufelskreis von Hass, Aufwiegelung, Gewalt und Rache aussteige. Tatsächlich ist es sehr schwierig, und ich muss jeden Tag dem Sog widerstehen, der mein Engagement für Versöhnung und mein Streben nach einer dauerhaften Koexistenz mit Israelis in Frage stellt.
taz: Schon 2015 haben Sie eine NGO gegründet, um dem Gazastreifen zu einem Flughafen zu verhelfen.
Alkhatib: Das Projekt „Vereinte Hilfe“ konzentrierte sich auf einen bestimmten Teil des Leids, nämlich die fehlende Bewegungsfreiheit der Menschen im Gazastreifen in und aus der Enklave. Damals hatte ich die Hoffnung, dass der Krieg im Jahr 2014 der letzte sein würde und dass ein langfristiger Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas eine strategische Entwicklung des Streifens ermöglichen könnte, um die humanitäre Lage zu verbessern und die Menschen von Armut und Leid zu befreien. Damals gab es dort immense wirtschaftliche und gesundheitliche Herausforderungen: Die Jugendarbeitslosigkeit ist eine der höchsten der Welt, und die Menschen sind in hohem Maße auf Hilfe und internationale NGOs angewiesen, um über die Runden zu kommen.
taz: Sie plädieren dafür, angesichts der verfahrenen Situation und der Polarisierung „outside of the box“ zu denken. Was meinen Sie damit?
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Alkhatib: Wir müssen die festgefahrenen Narrative durchbrechen, dürfen keine Scheu vor taktischen Übereinkünften haben, auch wenn wir in einigen Punkten nicht übereinstimmen. Übereinstimmen müssten wir darin, dass die Prinzipien von Empathie und Menschlichkeit uns durch diese schreckliche Phase führen sollen. Es nimmt dem Leid der israelischen Opfer nichts von seiner Bedeutung, wenn wir die Schrecken, die in Gaza geschehen, anerkennen. Andersherum negiert es nicht das palästinensische Leid, wenn man anerkennt, dass die Hamas ein ruchloser Akteur ist, der dem dringenden Streben des palästinensischen Volkes nach Freiheit, Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit geschadet hat.
taz: Das klingt gut, aber ist das nicht vollkommen fernab der Realität?
Alkhatib: Was mir Hoffnung gibt, ist, dass ich einen echten Hunger nach einem dritten Weg sehe, sowohl bei vielen Israelis im Land als auch in der Diaspora und nicht nur bei den Linken oder den Liberalen, sondern auch bei den Rechten. Viele von ihnen sind entsetzt über das Leid in Gaza. Sie fühlen sich von der Netanjahu-Regierung oder den rechtsextremen und gewalttätigen Ministern nicht vertreten. Und dann gibt es viele Palästinenser, die mir vor allem unter vier Augen, aber manchmal eben auch öffentlich sagen, dass sie es leid sind, zwischen der korrupten und inkompetenten Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland und dem Terrorismus der Hamas zu wählen. Ich denke, es muss einen knallharten Pragmatismus anstelle von Ideologie geben.
taz: Davon sind wir derzeit gerade weiter denn je entfernt …
Alkhatib: Ja. Und mir scheint, in der palästinensischen Diaspora noch viel mehr als in Gaza. Die palästinensische Diaspora hat sich meines Erachtens viel stärker radikalisiert als die Palästinenser in Gaza.
taz: Wie erklären Sie sich das?
Alkhatib: Zum einen mit Schuldgefühlen. Viele Palästinenser in der Diaspora fühlen sich schuldig, weil sie rausgekommen sind und mehr Möglichkeiten haben als die Palästinenser im Gazastreifen und im Westjordanland. Das veranlasst meines Erachtens einige dazu, dieses schlechte Gewissen zu kompensieren, indem sie eine radikalere Haltung einnehmen. Dies führt zu einer leichten Diskrepanz zwischen den Palästinensern in den Gebieten und denen außerhalb des Gazastreifens. Die Palästinenser im Gazastreifen und im Westjordanland legen manchmal mehr Pragmatismus und Flexibilität an den Tag als die in der Diaspora.
Außerdem versuchen einige nicht-palästinensische Verbündete, die palästinensische Bewegung zu kapern und sie in einen postkolonialen Rahmen zu stellen. Dabei ist die Realität in Palästina ganz anders als in Südafrika. Uns wurde gesagt, dass wir mit Sanktionen und BDS allein die Rechte der Palästinenser erlangen können. Dabei brauchen wir in Wirklichkeit Verbündete innerhalb der jüdischen und israelischen Communitys, um Frieden zu erreichen. Ihr Sicherheitsgefühl ist der Schlüssel für eine sinnvolle Lösung – natürlich zusammen mit der Sicherheit der Palästinenser. Wir können über die Art und Weise, wie Israel gegründet wurde, unterschiedlicher Meinung sein. Dennoch müssen wir in die Zukunft blicken. Denn das palästinensische Volk verdient einen eigenen Staat im Westjordanland und im Gazastreifen.
taz: Was wäre denn in Ihren Augen der Weg zu einem palästinensischen Staat?
Alkhatib: Obwohl viele von uns danach gestrebt haben, eine demokratische Gesellschaft zu schaffen, hatten wir nie die Chance dazu, diese zu entwickeln. Es gibt keine wirkliche palästinensische Zivilgesellschaft und kaum demokratischen Dialog auf kommunaler Ebene. Das liegt auch daran, dass wir so verteilt leben. Es gibt die Palästinenser in den palästinensischen Gebieten, es gibt Flüchtlinge in Syrien, im Libanon, in Jordanien. Und dann noch die Palästinenser im Rest der Welt, in der westlichen Diaspora. Es ist so schwer, es sich vorzustellen, aber wenn ich endlose Ressourcen hätte, dann würde ich gerne das Äquivalent zur zionistischen Bewegung für die Palästinenser schaffen. Ich wäre gewissermaßen gerne der Theodor Herzl für die Palästinenser.
taz: Haben Sie denn noch Hoffnung, dass Sie eines Tages ein demokratisches und unabhängiges Palästina erleben werden?
Alkhatib: Ich bin optimistisch und hoffe, dass es in der Zukunft tatsächlich eine Reihe von Entitäten geben wird, die sich zusammenschließen, um ein Heimatland und ein unabhängiges Palästina zu schaffen. Es wird vielleicht nicht sofort wie ein traditioneller Staat aussehen, aber ich glaube, dass wir mit der nötigen Zeit und dem nötigen Raum dorthin gelangen können. Der Gazastreifen wird ein wichtiger Teil dieses Puzzles sein. Es ist wichtig zu zeigen, dass die Palästinenser zu einer effektiven Selbstverwaltung fähig sind und dass wir den Schaden, den die Hamas nach dem Abzug der israelischen Siedlungen 2005 angerichtet hat, rückgängig machen können. Der Gazastreifen kann und muss das pulsierende Herz eines künftigen palästinensischen Staates werden.