Kultur

Adrian Angelico und Kirsten Flagstad | ABC-Z

Um Diversität, Inklusion und Teilhabe wird in Deutschland, der Schweiz und Österreich seit Jahren viel Lärm gemacht. Es reicht nicht, wenn sie in den Kulturveranstaltungen, ja, in der Kunst selbst drinstecken, es muss auch noch groß draufstehen, womit Diskriminierung im Grunde unterstrichen wird. Zudem geht es den meisten Aktivisten oft gar nicht um andere, sondern um sich selbst: Die Parolen sind Teil des Politmarketings von Kunst geworden, eben weil die Kunst selbst nichts mehr gilt. Sie muss Aufmerksamkeit erregen durch außerkünstlerischen Aktivismus.

Die Internationalen Festspiele in Bergen, Nordeuropas größtes Mehrspartenfestival für Theater, Ballett und Musik, haben solch ein Trara nicht nötig. Allen Intendanten, Festivalleitern und Kuratoren sei der Besuch dringend empfohlen, denn wer hierherkommt, erlebt einen völlig selbstverständlichen, konfrontations- und demonstrationsfreien Umgang mit verschiedenen Publikumsschichten oder Menschen, die irgendwie von der Mehrheit abweichen.

Adrian Angelico, in Sami-Tracht, singt Edvard Griegs „Haugtussa“Helene Myksvoll

Nirgendwo zum Beispiel wird eigens betont, dass der Mezzosopran Adrian Angelico aus dem Volk der Samen und non-binär ist oder vielmehr eine Frau, die männlich gelesen werden möchte, aber eine Hormontherapie – worüber sie im Interview für die BBC ausführlich sprach – verweigerte, weil sie ihre Stimme als ihr Selbst empfindet und nicht verändert wissen möchte. Angelico, in Norwegen längst ein Star der Oper, des Folk und des Pop, tritt mit der Pianistin Marita Kjetland Rabben in der gotischen Håkonshalle aus dem 13. Jahrhundert einfach so auf wie jeder andere Sänger. Auch im Programmheft findet keinerlei Markierung, nicht einmal eine Erwähnung der Geschlechtsbestimmung statt.

Der Auftritt spricht für sich: Was für eine charismatische Persönlichkeit! Mitreißend im Können und verblüffend in dem, was man „gut gelaunten Ernst“ nennen muss. Angelico trägt einen Rock aus schwarzem Tüll, dazu eine schwarze Bluse mit glitzerndem Lycra, am Kragen jedoch die rot-grüne Borte mit Silberfibel der Sami-Tracht. Frauenkleidung und Männername finden ebenso zwanglos zueinander wie indigene Kultur und kanonisierte Kunst. „Haugtussa“ – „Bergmädchen“ – nämlich eröffnet den Abend, jener Liederzyklus von Edvard Grieg, der mit den Gedichten Arne Garborgs erstmals in der Geschichte des Kunstlieds weibliches Begehren und erotische Selbstbestimmung thematisiert, ohne sie zu dämonisieren oder der Ehe unterzuordnen. In Bochum war Angelico in der szenischen Fassung von „Haugtussa“ 2024 bei der Ruhrtriennale zu Gast.

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Ein lebhafter, warm timbrierter Gesang größter erzählerischer Suggestionskraft ist hier zu erleben, am Klavier phänomenal in den jähen Wendungen des Schilderns und Empfindens unterstützt. Die Hellsichtigkeit des Mädchens Veslemøy inkarniert sich in Angelicos Blick. Die Fröhlichkeit des Zickleintanzes mit dem Hirtenjungen Jon hüpft durch die Stimme (und aus dem kurzen Texthänger macht Angelico eine kabarettistische Einlage). Die Schauer der Küsse und der Schmerz der Trennung rieseln durch den Gesang und die Klavierbegleitung – voll entfaltete Menschlichkeit in kontrastreichen Miniaturen ekstatischen Lebens.

Doch Angelico belässt es nicht bei Kunstliedern von Grieg und Franz Schubert. Es folgt ein Joik, ein traditioneller Gesang der Samen, mit kurzer Einführung: „Joik bezeichnet nichts. Joik ist etwas. Wenn ich jetzt von meiner Schwester Pernille singe, dann joike ich sie herbei. Sie ist dann hier.“ Musik aus dem Disney-Film „Die Eiskönigin – Völlig unverfroren“, gesungen mit einem Mikrofon, und der Ethno-Popsong „Elle“ von Mari Boine beschließen das Programm. Verschiedene stimmtechnische Weisen des Singens, die für unterschiedliche kulturelle Sphären und Bildungsbiographien stehen, kommen hier so zwanglos zusammen wie die unterschiedlichen Identitäten, die sich in der Person von Adrian Angelico vereinen.

Edvard Griegs Villa Troldhaugen bei Bergen
Edvard Griegs Villa Troldhaugen bei BergenJan Brachmann

Lars Petter Hagen, seit drei Jahren Intendant der Festspiele in Bergen, sagt im Gespräch mit der F.A.Z.: „Die Erschließung des Publikums muss organisch erfolgen. Es muss der Kunst zuwachsen wie in einem Garten. Ich halte nichts von Zwang und demonstrativer Pädagogik.“ Und so kann, wer will, in der Fußgängerzone der vibrierenden westnorwegischen Stadt Volkslieder und Popsongs mit Herborg Kråkevik und den Trondheimer Solisten singen, „Lieder, die wir alle seit unserer Kindheit kennen“, sagt Hagen, und andererseits gibt es unter der Lichtrotunde des Kunstmuseums Musik des japanischen Komponisten Ryoji Ikeda mit dem Ensemble Modern oder im Westnorwegischen Theater Uraufführungen neuer Kammermusik mit den Teilnehmern des Meisterkurses der Cellistin Amalie Stahlheim. Es ist alles da: Popkultur und Hochkultur, Shoppingmall und Elfenbeinturm. Nichts wird gegeneinander ausgespielt. Die Zeiten des ästhetischen Monismus sind genauso vorbei wie jene metaphysischer Totalphilosophien. Was zählt, ist Akzeptanz. Und was Hagen hier vorbildhaft gelingt, ist eine Deeskalation gegenwärtiger Kulturkämpfe, ohne Abstriche bei der Qualität zu machen.

Edvard Griegs Steinway-Flügel von 1892 in Troldhaugen
Edvard Griegs Steinway-Flügel von 1892 in TroldhaugenJan Brachmann

Sicher, die Zahl der Veranstaltungen scheint etwas kleiner zu sein als in früheren Jahren. Während man vor sechs Jahren zuerst um 19.30 Uhr ein Konzert in der Håkonshalle besuchte, um dann gegen 22.30 Uhr auf Troldhaugen in Edvard Griegs Villa in die weiße Nacht zu tauchen, so fängt das Villa-Konzert jetzt schon um 19 Uhr an. Der Spättermin entfällt. Aber ein intensives Erlebnis bleibt es, im nach Holz duftenden Salon Griegs zu sitzen und, von der Abendsonne übergossen, Christian Ihle Hadland zuzuhören. Auf Griegs Flügel aus dem Jahr 1892 lässt er am Ende von Nikolaj Medtners Märchensonate op. 25 Nr. 1 die Schatten zerstieben oder taucht Griegs „Lyrische Stücke“ op. 43 in ein riskantes Schillern, wie man es sonst nur von Virtuosen der Sinnlichkeit wie Sofronizki oder Horowitz kennt.

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„Wir alle“, sagt Hagen, „jagen der Jugend hinterher. Und auch ich bin froh, dass wir den Anteil der Sonderpreistickets für Besucher unter 30 Jahren seit 2023 um 70 Prozent steigern konnten. Aber wir dürfen die Alten nicht vergessen. Ich selbst bin Jahrgang 1975 und habe nach gegenwärtiger Statistik eine Lebenserwartung von 91 Jahren. Der Anteil der Alten nimmt zu. Sie sind zahlungskräftig, gebildet, können selber denken und wollen am Leben weiterhin teilhaben. Wir müssen für die Alten interessant und zugänglich bleiben“. Der Theaterabend „Das geheime Leben alter Menschen“ des französisch-marokkanischen Autors und Regisseurs Mohamed El Khatib ist da nur ein Beispiel, wenngleich ein offensives: Er erzählt auf der Basis originaler Berichte von Menschen zwischen 74 und 102 Jahren über Sexualität und Begehren im Alter, die keineswegs nachlassen, wobei der frühe Zauber des ersten Mals – wie mit schwarzem Humor angemerkt wird – verfliegt zugunsten des Schauers eines möglichen letzten Mals.

Lars Petter Hagen aber will, dass von einem Festival nicht nur das Konzept, sondern auch der einzelne Künstler in Erinnerung bleibt. Eine sehr berührende Erfahrung ist dabei die Wiederauferstehung von Kirsten Flagstad (1895 bis 1962), einer der bedeutendsten Sängerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre Stimme wurde digitalisiert und von der ursprünglichen Begleitung isoliert, damit das Edvard Grieg Vokalensemble unter der Leitung von Stephen Higgins live mit ihr in der Håkonshalle singen kann. Man erfährt Flagstad, die wie keine zweite Intimität und Monumentalität zu verbinden wusste und ebenso klangschön wie sprachnah phrasieren konnte, in Gemeinschaft neu. Wir erleben die technische Neuinszenierung einer individuellen Stimme, die in ihrer interpretatorischen Kunstanstrengung durch das Dokument der Aufnahme selbst zum Kunstwerk geworden ist. Auch darin liegt ein neuer Impuls im Nachdenken über Musik, der von Bergen ausgeht.

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