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Achensee/Hinterriß: Glück und Schrecken einer Silvesternacht in den Bergen – Bayern | ABC-Z

Die Alpen sind Projektionsfläche für unverfälschte Natur- und Sporterlebnisse. Touristiker vermarkten sie als Erholungs- und Aktivitätsraum. Influencer posten das ganze Jahr über in unzähligen Kanälen ihre schönsten Touren. Wenn sich an manchen Gipfeln die Massen drängen, dürfte das also kaum noch jemanden verwundern. An Wochenenden und Feiertagen ist die gesuchte Bergeinsamkeit vielfach kaum noch zu finden, die Unterkünfte der Alpenvereinssektionen sind entsprechend ausgebucht.

Sich auf gut Glück auf den Weg in die Berge zu machen, kann indes furchtbar schiefgehen. Als zwei Mittdreißiger aus München an Silvester 2016/2017 im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen Richtung Jochberg aufstiegen, wollten beide nur feiern und Raketen beobachten. Dafür wählten sie als Standort den Felsvorsprung des Gamsköpfls, der weite Sicht ins Alpenvorland verspricht. Das Lagerfeuer, das sie dort anzündeten, löste jedoch einen der größten Waldbrände der Region aus. 100 Hektar des für den Erosionsschutz wichtigen Bergwalds gingen in Flammen auf. Die Einsatzkräfte konnten das Feuer nur aufwendig löschen. Das Amtsgericht Wolfratshausen verurteilte die beiden wegen fahrlässiger Brandstiftung zu Geldstrafen.

Reiseschriftsteller als Pioniere des Alpentourismus

Vor allem akademisch gebildete Städter mit genügend Zeit- und Geldressourcen zog es schon im 19. Jahrhundert vermehrt in die Berge. Einer der Pioniere war Ludwig Steub (1812-1888) aus dem bayerischen Aichach, der später als Rechtsanwalt und Notar in München tätig war. Bekannt wurde er ebenso als Schriftsteller mit Reiseschilderungen aus dem Alpenraum. Daran knüpfte Heinrich Noë (1835-1896) an, der zunächst vergleichende Philologie und Naturwissenschaften in Erlangen studiert hatte. Jahrzehntelang wanderte der gebürtige Münchner durch den bayerischen und österreichischen Alpenraum bis zur Adria und schrieb darüber. Laut dem Österreichischen Biographischen Lexikon der Österreichischen Akademie der Wissenschaften war Noë damit einer der „Bahnbrecher des modernen Fremdenverkehrs“.

Heinrich Noë gilt als einer der Begründer des modernen Bergtourismus. (Foto: Bayerische Staatsbibliothek / Bildarchiv / OH)

Am Silvestertag 1864, also vor genau 160 Jahren, brach Noë mit seinem Hund zu einer Tour vom Achensee über einen Pass in die Eng auf. Was der Reiseschriftsteller dabei erlebte, beschrieb er in seinem „Bairischen Seenbuch“ von 1865 – ein Dokument, das zeigt, wie fatal es sein kann, im Gebirge leichtsinnig zu agieren.

Es beginnt damit, dass sich Noë am Vorabend zu Bett legt, um tags darauf eine der umliegenden Höhen zu besteigen. „Die Lorbeeren des Herrn Professor Pichler in Innsbruck, der am Weihnachtstage den Unnütz bestiegen hatte, ließen mich nicht schlafen“, schildert er. Winterlich war es wohl damals manchmal genauso wenig wie heute. Denn die Berge hatten „so viel wie gar keinen Schnee“, notiert Noë.

Am Morgen liegt Nebel über dem Achensee, was ihn nicht abschreckt, im Gegenteil. Wer im Hochland zu Hause sei, mache sich nichts aus so einer Dunstglocke, schreibt er. Denn er wisse, dass nur tausend Fuß darüber die Sonne strahle und der „Himmel in glänzendem Tiefblau über der beschneiten Erde liegt“. Zudem locke Bergfreunde das Ungewohnte mit ein wenig beigemischter Gefahr mehr als die Vorstellung, am warmen Ofen im Haus zu bleiben. Anklänge an die heutige erlebnishungrige Freizeitgesellschaft sind da schon deutlich herauszuhören.

Noës Ziel war es, vom Achensee über das Plumser Joch das Jägerhaus in Hinterriß zu erreichen. Die einzige ganzjährig bewohnte Siedlung im Karwendel ist bis heute nur von deutscher Seite aus dem jetzigen Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen über eine Straße zu erreichen.

„Es ist bekannt, dass Bauernlungen keinen Sauerstoff brauchen“, schreibt er

Für seine Unternehmung muss Noë aber erst einmal über den Achensee nach Pertisau. Wie blickt der Schriftsteller auf den Einheimischen, der ihn im Kahn übersetzen soll? Der Märchenwelt der Winterlandschaft – der Nebel hat sich gelichtet – stellt er die „dumpfe, schmirgelnde und brütende Hitze“ in dessen „übelriechenden Gemach“ gegenüber.

„Es ist bekannt, dass Bauernlungen keinen Sauerstoff brauchen“, schreibt Noë. Mit bewunderungswürdiger Sorgfalt werde in ihren Häusern und Höfen jede Ritze verstopft, durch die nur „ein Atom gesunder Luft hereindringen könnte“. Und trotzdem rudert der „Ueberführer“ den Reiseschriftsteller in Hemdsärmeln und mit offener Brust über den See. Noë notiert, auf „Belehrung“ verzichtet zu haben, weil er eingesehen habe, dass das „unnütz“ gewesen wäre. Wie das der Tiroler aufgenommen hätte, bleibt unbeschrieben. Doch so manche bis in die bayerischen Voralpen gepflegte Spitze gegen „den Münchner“ könnte in solchen Sätzen ihren Ursprung haben. Zudem dürfte Noë wenig bedacht haben, wie schlecht die Bauernhäuser gedämmt und wie schwer sie zu beheizen waren.

Zwei Stunden dauert die Fahrt durch die Eisschollen, um den See zu überqueren. Noë muss sogar noch ein paar Schritte auf dem Eis gehen, um bis ans Ufer zu gelangen, und bricht mehrmals ein. „Diese bedeutende Verspätung und das anfangs von mir nicht bemerkte Durchweichen der Schuhe mit dem eiskalten Wasser sollten, wie wir sehen werden, auf den unglücklichen Ausgang der Expedition von wesentlichem Einfluss sein.“ Trotzdem hält Noë an seinem Vorhaben fest, auch wenn es schon 12.30 Uhr ist und die Sonne an einem Wintertag früh untergeht – ein klassischer Fehler, vor dem auch heute jedes Bergwacht-Mitglied warnen würde.

Eine Frau, die Noë trifft, sagt, dass es schon ein wenig spät sei, um über das Joch zu steigen. Aber er dürfe sich auf einen frosthellen Abend gefasst machen, an dem die Mondsichel am Himmel zu sehen sein werde. Noë beobachtet, wie der Schnee in höheren Lagen sogar weniger hoch liegt als im Tal. Bei sogenannten Inversionslagen ist die Luft weiter oben am Berg milder als im Tal, weswegen es dort auch mehr taut.

Noë hat keine Steigeisen dabei, nur einen Wanderstock

Trotzdem sinkt Noë, als er aufsteigt, teils bis zu den Knien im Schnee ein. Dennoch folgt er dem Bergsteig unablässig weiter Richtung Plumserjoch, durchquert Lawinenausläufer und rutscht auf gefrorenem Untergrund weg. Nicht einmal Steigeisen hat er mit. Ein Jäger habe ihm davon abgeraten, welche einzupacken, weil auf dem Joch sicherlich kein Eis liege, schreibt Noë. Auch sein Hund tut sich schwer im Gelände, verliert den Halt und rutscht ein paar hundert Fuß ab. Noë muss ihn retten. Schließlich erreicht er die Jochhöhe. „Als ich auf dem Grate stand, ging die Sonne unter“, schreibt er.

Was er nicht bedacht hat: Auf der Westseite des Gebirgsrückens hat der Wind viel mehr Schnee an den Hang verfrachtet als an der Aufstiegsseite. Während es immer dunkler wird, stürzt und sinkt Noë mit jedem Schritt in den Schnee ein. Im Wald ist die Sicht schlecht. Je weiter er absteigt, desto kälter wird es. Noë verliert die Orientierung. Als er einen Bach überquert, stürzt er ins Wasser und wird bis zu den Knöcheln nass. Schließlich kommt er im Tal zu einer leer stehenden Hütte. Doch anstatt dort zu übernachten, beschließt er, weiterzugehen und zu versuchen, noch bis Hinterriß zu kommen.

Dafür sollte er „bestraft“ werden, schreibt Noë. Seine ganze Kleidung vom Hut bis zu den Schuhen ist mit einer Eisschicht überzogen. Die Strümpfe zu wechseln, ist unmöglich, weil er seine Stiefel nicht ausziehen kann. Erschöpft und fast kraftlos erreicht er gegen Mitternacht eine Hütte. Dort gelingt es ihm, Feuer zu machen und sich aufzuwärmen. Die Nahrungsmittel sind aufgebraucht. Als er die Stiefel abstreifen kann, lösen sich erfrorene Hautfetzen mit ab. Noë kann nicht mehr weiterlaufen.

Doch der Schein des entzündeten Feuers macht einen Finanzpostenführer weiter unten im Tal aufmerksam, der aufsteigt und ihn rettet. Der Mann organisiert einen Schlitten, auf dem Noë nach Hinterriß gebracht werden kann. Ohne diese glücklichen Umstände hätte Noë wohl nicht überlebt – und niemand hätte je von dieser Silvesternacht erfahren.

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