Sport

Jens Weißflog: „Ich dachte: Scheiß drauf. Du willst sowieso aufhören“ | ABC-Z

Mit vier Siegen in zwei Stilen ist Jens Weißflog Deutschlands Tournee-Held. Nur Janne Ahonen siegte einmal mehr. Hier blickt der 61-Jährige zurück auf seinen letzten Triumph vor 30 Jahren – auf Frust, Angst und Erleichterung, auf James Bond und ein Aufwiegen in Käse. Stolz ist er heute auf seine Tochter.

Die Café-Mitarbeiterin in Frankfurt an der Oder blickt neugierig: „Sind Sie nicht …?“ Jens Weißflog lächelt. „Ja, das bin ich.“ 61 ist der frühere Skisprung-Held mittlerweile, die Mitarbeiterin in etwa halb so alt. Womöglich war sie nicht einmal geboren, als Weißflog 1996 seinen vierten Triumph bei der Vierschanzentournee feierte. Es war ein Erfolg, der vor dem Tourneestart damals meilenweit entfernt schien. „Vielleicht kennt sie mich aus der Zeit danach als TV-Experte“, sagt der Olympiasieger. Aber vielleicht auch, weil er der erfolgreichste deutsche Skispringer der Geschichte ist, eine Legende.

Weißflog hat fast alles gewonnen, was die Skisprungwelt hergibt: dreimal Olympiagold, davon zweimal alleine und einmal mit dem Team (1984 und 1994), WM-Titel (1985 und 1989), die Vierschanzentournee (viermal zwischen 1984 und 1996) sowie den Gesamtweltcup (1983/84). Nur bei Skiflug-Weltmeisterschaften reichte es nicht ganz für den Sieg, dafür aber für Silber und Bronze. 1996 beendete er seine Karriere.

WELT AM SONNTAG: Herr Weißflog, was würde passieren, wenn Sie heute springen würden?

Jens Weißflog: Ich weiß nicht, ob ich bis zum Schanzentisch käme. Wenn ich bei meinen Schanzenführungen in Oberwiesenthal dort oben sitze, rutsche ich auch mal auf dem Balken hin und her und lade die Leute ein, sich dazuzusetzen, um ein Gefühl zu bekommen. Das ist für viele Furcht einflößend. Dort zu sitzen, ist für mich kein Problem, ich stelle mir dann aber auch oft vor, wie es wäre, wenn ich jetzt Skier an den Füßen hätte und hinunterfahren müsste. Ich glaube, ich hätte Todesangst. Es ist zu lange her. Die Abläufe sind vielleicht noch in meinem Kopf, aber die Kräfte, die da wirken … nein.

WAMS: Gehen wir in die Weihnachtszeit 1995, vor ihrer letzten Tournee. Die Saison lief bescheiden. 

Weißflog: Es hat mich wahnsinnig gemacht, dass es nicht lief. Wir hatten nur noch die Lösungsmöglichkeit im Kopf, dass anderes Material helfen könnte. Ich bin deshalb sogar am Vormittag des Heiligabends noch in Oberwiesenthal gesprungen und habe getestet, aber ich war so schlecht, dass ich dachte: „Ich brauche eigentlich gar nicht zur Tournee zu fahren.“ Kurz vor der Tournee gab es aber noch einen Weltcup in Oberhof. Ich war zuvor aus den Top 15 des Gesamtweltcups geflogen, musste mich also qualifizieren – eine absolut neue Situation für mich. Das brachte natürlich Aufregung mit sich. Ich glaube nicht an Gott, aber es gab dann eine Situation, in der zumindest der Skisprunggott auf meiner Seite war.

WAMS: Erzählen Sie.

Weißflog: Im Landeanflug bei der Qualifikation dachte ich, ich komme nur auf 100 Meter; damit wäre ich raus gewesen. Aber plötzlich, kurz vor dem Boden, bekam ich eine Windböe ab, die mich auf 110 Meter trug – damit war ich qualifiziert. Im Wettbewerb wurde ich dann überraschend Dritter. Es war nicht plötzlich alles gut, aber besser. Eine zweite psychologische Sache kam hinzu: Meine damalige Frau sagte vor dem Springen in Oberhof: „Du hast alles getan, hast bis Weihnachten trainiert, man kann es aber im Moment nicht beeinflussen. Wenn es dein letztes Jahr ist, dann verabschiede dich von der Schanze und mach gute Miene zum bösen Spiel. Der Zuschauer kann nichts dafür, gib Autogramme, auch wenn es schwerfällt.“

WAMS: Das hat bei Ihnen gewissermaßen einen Schalter umgelegt?

Weißflog: So kann man es sagen. Ich dachte: „Genau, scheiß drauf. Du willst sowieso aufhören.“

WAMS: Dennoch war es eine unruhige Nacht vor dem Tourneestart.

Weißflog: Sehr unruhig. Ich hatte einen Magen-Darm-Infekt und habe die Nacht auf dem Klo verbracht. Das hat aber sicherlich auch dazu beigetragen, dass ich einigermaßen entspannt an die Sache herangegangen bin, weil ich nichts erwartet habe. Zuvor hatte ich zudem offiziell gemacht, dass ich nach dieser Saison aufhören werde. Das kam damals sogar in der „Tagesschau“.

WAMS: Haben Sie sich damit nicht noch mehr unter Druck gesetzt? Weil klar war, dass dies die letzte Chance auf Ihren vierten Tourneesieg war.

Weißflog: Unbewusst vielleicht, aber ich bin nie zur Tournee gefahren mit dem Gedanken, ich will unbedingt gewinnen. So etwas kommt immer aus der Situation heraus. Wenn ich in Form war, war mein Ziel natürlich das Podest. Wenn du aber aus den Top 15 geflogen bist, bist du ja überhaupt nicht in der Lage zu gewinnen. Das war weit weg. Mit das Entscheidende bei jener Tournee war, dass ich absolut ohne Erwartungshaltung an die Schanze ging. Mir war alles ziemlich egal. Psychologen hätten ihre Freude daran, das zu erklären. Bis kurz vorher springst du wie ein Ei – und dann stehst du auf dem Podest. Oberhof war sicherlich der Durchbruch.

WAMS: Hatten Sie da die Tournee 1993/94 abgeschüttelt? Jene Tournee, bei der Sie dicht vor dem vierten Triumph standen und es zum Eklat kam?

Weißflog: Das war einen, maximal zwei Tage später erledigt. Denn wenn Olympia ansteht, kann man sich nicht lange mit anderem aufhalten – und ich wollte in Lillehammer etwas erreichen. Auch wenn ich mich damals um den Tourneesieg betrogen gefühlt hatte, musste es schnell weitergehen.

WAMS: Es war der Finaldurchgang in Bischofshofen. Sie führten in der Gesamtwertung vor Espen Bredesen. Dessen Teamkollege Ottesen war vor Ihnen dran. Und dann saß er da …

Weißflog: … und sprang nicht. Er blieb ewig lange sitzen, zögerte es ganz offensichtlich hinaus. Die Bedingungen waren bis dahin gut und wurden schlechter, als ich schließlich dran war. Am Ende gewann Bredesen die Tournee.

WAMS: Haben Sie irgendwann einmal mit Ottesen darüber gesprochen?

Weißflog: Für mich war er in gewissem Maße das Bauernopfer. Verantwortlich war der Trainer. Er hatte ihm gesagt: „Du fährst erst ab, wenn ich winke.“ Ottesen war damals 19, relativ jung. Er wusste nicht so richtig, was gespielt wird. Es gab dann 2024 eine MDR-Doku über meine Karriere, für die wir unter anderem in Lillehammer waren – die Überraschungsgäste dort: Bredesen und Ottesen. „Dreieinhalb Minuten waren ganz schön lang“, sagte Ottesen da. Für mich war das schon lange durch, aber für die Zuschauer und Medien nie.

WAMS: Zurück zur Tournee 95/96; nach Oberstdorf folgte Garmisch.

Weißflog: Da muss ich betonen: Wäre Mika Laitinen, der in Oberstdorf gewonnen hatte, in Garmisch nicht so schwer im Training gestürzt, wäre es schwieriger geworden mit dem Gesamtsieg. Nicht unmöglich, aber schwierig.

WAMS: Vor Innsbruck führten Sie dann die Tournee an, und es gab ein sogenanntes Aufwiegen. Was war das?

Weißflog: Die besten drei Springer wurden im Casino von Innsbruck vorher aufgewogen – einer in Käse, der andere in Schinken und der nächste in Marmelade/Honig. Jeder von uns hatte dann also um die 50 Kilo davon. Wir haben am Ende das Zeug getauscht, damit jeder von allem etwas hat. Ich fand das wirklich originell, und es hat den immer gleichen Ablauf der Tournee ein bisschen unterbrochen. Ich glaube aber auch, dass ich in dem Jahr offen dafür war, weil ich eben entschieden hatte: „Freu dich auf alles, was kommt.“

WAMS: Wie ging es Ihnen, als Sie in Bischofshofen realisierten, dass es mit dem Triumph klappen kann? 

Weißflog: Obwohl ich in Bischofshofen zuvor dreimal gewinnen konnte, hatte ich eine Art Trauma entwickelt. Denn drei andere Male war ich als Führender der Tournee-Wertung hingefahren – und hatte es dennoch nicht gepackt. Meine große Angst war, dass es wieder so kommt. Beim Training lief es dann auch nicht so gut. Irgendwie kam ich mit Bischofshofen, mit dem flachen Anlauf nie so richtig zurecht. Zur Ablenkung bin ich damals am Abend vorher ins Kino gegangen.

WAMS: Die anderen Kinogänger waren sicherlich verdutzt, oder?

Weißflog: Ich habe „James Bond 007 – Goldeneye“ geschaut – und ja, in der Schlange an der Kasse schauten mich alle an. „Sie gehen jetzt ins Kino? Sie haben doch morgen Tournee?“, fragten manche.

WAMS: Es half anscheinend.

Weißflog: Na ja, ich war so aufgeregt, dass ich beim ersten Wertungsdurchgang extrem nach vorn schoss. Ich dachte, ich lande auf dem Vorbau, weil ich so flach oben rüber bin – allerdings auch ziemlich schnell. Ich sagte mir nur: „Du bleibst jetzt in dieser Position, selbst wenn du auf dem Bauch landen solltest!“ Und dann war es Bestweite des Durchgangs. Plötzlich wusste ich, wie ich dort springen muss.

WAMS: Hatten Sie dann beim zweiten Sprung noch Angst?

Weißflog: Die Angst war weg, aber die Aufregung riesig. Als Gesamtführender bist du immer der Gejagte und hast den größten Druck. Und dann tauchten sie ja wieder auf, die Fragen von Außen nach dem vierten Tourneesieg.

WAMS: Wie ordnen Sie Sieg Nummer vier ein?

Weißflog: In erster Linie war ich froh, dass diese eine Frage aufgehört hat, die mir seit Jahren immer wieder gestellt worden war: Wann klappt es mit dem vierten Tourneesieg? Den hatte bis dahin ja noch kein anderer errungen. Dieser vierte Sieg war eine große Erleichterung und Erlösung, mir ist auch eine Last abgefallen. Ich hatte seit dem dritten Tournee-Erfolg immer das Gefühl gehabt, eine enorme Erwartungshaltung zu schultern. Das konnte ich ja zu Beginn der Tournee 1995/96 ausschalten, weil es so schlecht lief, aber es steigerte sich dann natürlich bis Bischofshofen extrem.

WAMS: Das Happy End geschafft. Gewonnen mit zwei Sprungstilen, für die DDR sowie für das gesamtdeutsche Team. Was bedeutete Ihnen das?

Weißflog: Ich bin vor allem dankbar. Und natürlich freut es mich auch, wenn das alles nicht nur für mich, sondern auch für andere Menschen eine Bedeutung hat. Es ist wirklich ein Phänomen, finde ich, dass es 30 Jahre später noch Menschen bewegt. Wenn Busse bei uns am Hotel ankommen und die Leute mich sehen, klatschen sie. Das hängt sicherlich auch mit dieser ganzen Zeit zusammen. Vieles ist heute schneller geworden. Wir nehmen vieles nicht mehr an. Ich bin noch in einer Zeit bekannt geworden, in der alles bewusster wahrgenommen wurde. Auch die Sehgewohnheiten haben sich geändert. Es gibt einige Gründe dafür, warum die Dinge so sind.

WAMS: Janne Ahonen übertrumpfte Sie später mit fünf Tourneesiegen. Ein wehmütiger Moment?

Weißflog: Ich bin da realistisch. Zehn Jahre stand ich mit vier Siegen allein an der Spitze. Und wenn dann jemand mehr schafft, muss man das anerkennen. Ahonen hat in kurzer Zeit fünfmal die Tourneen gewonnen – das ist phänomenal. Ich trauere dem nicht hinterher. Und ich merke ja auch, dass die Menschen bis heute meine vier Siege wertschätzen. 

WAMS: Wie ist das für Ihre 15-jährige Tochter Greta, die Skispringerin ist? Der Nachname dürfte Druck machen.

Weißflog: Mein großer Sohn ist auch eine Zeit lang gesprungen, und auch ihn haben sie immer als „Sohn von“ angekündigt. Jetzt sind ein paar Jahre mehr ins Land gezogen, das macht sicher einen Unterschied. Ich glaube, es ist auch ein bisschen von der Person abhängig, ob ich mir daraus Druck mache. Greta ist da eher stolz, aber dennoch kann es zu viel werden. Zuletzt hat sie sich auch mal beschwert, dass der Stadionsprecher jedes Mal, wenn sie dran war, auf mich hingewiesen hat – das geht ihr dann natürlich auch auf den Keks. Aber im Großen und Ganzen, würde ich sagen, steht sie da drüber, sonst hätte sie es auch nicht bis hierhin geschafft. Ich bewundere sie dafür.

Melanie Haack ist Sport-Redakteurin. Für WELT berichtet sie seit 2011 über olympischen Sport, extreme Ausdauer-Abenteuer sowie über Fitness & Gesundheit. Hier finden Sie alle ihre Artikel.

Back to top button