Kultur

Ein kanadischer Weihnachtsmord von 1913 | ABC-Z

Das Klingeln des Telefons am 27. Dezember 1913 brachte große Neuigkeiten in die Polizeistation des kanadischen Städtchens South Fort George: Ein lebloser männlicher Körper war gefunden worden. Die drei Tage nach Heiligabend aufgefundene Leiche war die eines etwas über dreißigjährigen Mannes, der offenbar vor Kurzem eines unnatürlichen Todes gestorben war. Schauplatz des Verbrechens war eine abgelegene Provinz von zweifelhaftem Ruf. Die folgenden Ermittlungen bis hin zur Exekution des mutmaßlichen Täters sollten von fehlender Professionalität gekennzeichnet sein, die durch freihändige Rückgriffe auf stereotype Annahmen verschärft wurde.

Die Leiche wies Spuren körperlicher Auseinandersetzungen auf, am Tatort gab es Fußabdrücke im Schnee. Befragungen förderten rasch zutage, dass es sich bei dem Opfer um den Arbeiter Harry Porters handelte, und bald hatte man auch einen Verdächtigen identifiziert. Der an der University of British Columbia lehrende Historiker Jonathan Swainger nutzt in einem Aufsatz den historischen Kriminalfall, um die problematische Wirksamkeit von Klischees über seine Region anzusprechen, die sich hier in fataler Weise mit anderen Diskriminierungen kollusiv verbanden („A Christmas Eve Murder and the Notorious Georges: Community Identity in Northern British Columbia, 1913/14“, in: Law and History Review, Bd. 42, 2024).

Die Lokalzeitung drückt aufs Tempo

Der Tatort in British Columbia hatte den zweifelhaften Ruf, an der „white settlement frontier“ zu liegen; Alaska war nah. Die Erschließung der Wildnis durch Eisenbahnbau wurde begleitet von der Allgegenwart von Gewalt und Prostitution, sodass die Georges-Siedlungen South Fort George, Fort George und Prince George schon im Juni 1913 im mehr als 4000 Kilometer fernen Toronto in einer Ansprache eines ortskundigen presbyterianischen Geistlichen als „the very gates of hell“ bezeichnet worden waren. Kriminalitätsbekämpfung hatte so vor Ort eine besondere symbolische Relevanz. Schon die Silvester­aus­gabe der Lokalzeitung beklagte unter der Überschrift „A Terrible Tragedy“, dass die Aufklärung des Todesfalls nicht schnell genug voranschreite. Die gnadenlose Ausführung der Todesstrafe am verurteilten Täter brachte schließlich zum Abschluss, was Swainger mit einem Begriff des Kriminologen David Garland als eine „cultural performance“ bezeichnet: eine strafrechtliche Inszenierung von legitimer Machtausübung und umfassender staatlicher Autorität im Namen der Zivilisation.

Eisenbahnersiedlungen waren Vorposten der Zivilisation, jedenfalls auf dem Reißbrett: Prince George.Library and Archives Canada

Mit seiner Analyse des historischen Kriminalfalls behauptet Swainger nicht, dass mit dem Einwanderer Jurko Onooki schließlich ein Unschuldiger hingerichtet worden sei. Tatsächlich gab es Indizien, die ihn als plausiblen Täter präsentierten. Er soll mit dem späteren Opfer getrunken haben, habe von ihm Geld geliehen bekommen, war schließlich laut Zeugenaussagen mit Blutspuren gesehen worden und soll sich als Täter zu erkennen gegeben haben, wobei er mit Rache gedroht habe, falls man ihn verpfeifen sollte.

So kam Onooki rasch ins Visier der Polizei, wurde festgenommen, vernommen, inhaftiert. Chief Constable William Dunwoody musste daran erinnert werden, dass er dem Verdächtigen am zweiten Weihnachtstag, ungefähr achtzehn Stunden nach der Tatzeit, wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses durch Trunkenheit eine mündliche Ermahnung erteilt hatte. Diese Weihnachtsfriedensstörung war zu alltäglich gewesen.

Eine Gerichtsverhandlung unter Brüdern

In der Gerichtsverhandlung bekam der Angeklagte kurzerhand den jüngeren Bruder des Richters als Rechtsbeistand zugewiesen, weil er selbst ohne Anwalt erschienen war. Diese schon merkwürdige Konstellation wurde durch das Verhalten seines Verteidigers problematisch ver­schärft, denn dieser rief keinen einzigen Entlastungszeugen auf. Dass am Ende die Todesstrafe stand, konnte unter diesen Umständen nicht überraschen.

Übervölkert ist die Gegend nicht: Indianische Siedlung in Fort George.
Übervölkert ist die Gegend nicht: Indianische Siedlung in Fort George.Library and Archives Canada

Eine kritische Überprüfung der Beweise hätte im Begnadigungsverfahren stattfinden können. Doch dort wiederholten sich die defizitären Strukturen, die bereits das Ermittlungsverfahren gekennzeichnet hatten. Die Polizeiarbeit war vor dem Ersten Weltkrieg bestenfalls amateurhaft. Es gab keine richtige Ausbildung, nicht einmal Handbücher zum Selbststudium, nur eine kleine Einweisung durch Vorgesetzte und fragwürdige gute Absichten. Unter diesen Umständen konnten Sachbeweise kaum richtig gehandhabt werden, und bei den Zeugenaussagen schlugen Vorurteile durch, wer wohl eine glaubwürdige Person war – und wer umgekehrt nicht. Manche Einwanderer galten als saubere und anständige Bürger der Gemeinschaft, andere als raufsüchtige Trinker, denen schier alles zuzutrauen sei.

Unter diesen Umständen wurden nicht ins Bild passende Informationen verdrängt, etwa die Diskrepanz zwischen dem Fußabdruck als wichtigster Tatortspur und der um 2,5 Zentimeter abweichenden Schuhgröße von Onooki. Was blieb, war eine weitere Befragung lokaler Zeugen, die aber nun, im Juli 1914, zunehmend gekennzeichnet war von einer Überlagerung durch weltpolitische Konfliktlinien, aber auch Ethnizität. Das Opfer wurde in den Akten als „a Britisher“ geführt, Onooki, für den sich der österreichisch-ungarische Konsul verwendete, als „foreigner“. Innerhalb der Gruppe der als slawisch gelesenen Einwanderer standen sich jene gegenüber, die einen galizischen Hintergrund hatten, und andere, die „weißer“ erschienen und den mutmaßlichen Täter belasteten.

Allerdings wurde dem Opfer eine Art von Mitschuld durch Assoziation zugeschrieben, weil Porters sich dem Anschein nach in schlechte Gesellschaft begeben hatte. Schon im ersten Zeitungsartikel über den Leichenfund wurde berichtet, dass er an seinem letzten Abend in Begleitung eines „indianischen Halbbluts“ gesehen worden war. Kategorien von Gender, „Rasse“ und Klasse erleichterten die zuschreibende Identifizierung eines passenden Täters – eine klassische Konstellation epistemischer Ungerechtigkeit.

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