Wie pädosexuelle Straftäter agieren und wie man Kinder besser schützen kann | ABC-Z

Das, was der Staatsanwalt da im Kriminalgericht Moabit an einem Montagmorgen vorträgt, ist für Zuhörer nur schwer zu ertragen. Dem Angeklagten Peter A. (Name geändert) wird vorgeworfen, ein zwölfjähriges Mädchen missbraucht und Nacktfotos einer Siebenjährigen angefertigt zu haben. Fünf Minuten und 56 Sekunden lang verliest der Staatsanwalt die Anklage. A. räumt die Vorwürfe nur teilweise ein. Der Tatort? Die Wohnung des Angeklagten in Marzahn-Hellersdorf. Es ist bei weitem kein Einzelfall.
947 Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern zählte die Polizei im vergangenen Jahr in Berlin – in keinem Bezirk so viele wie in Marzahn-Hellersdorf. 109 Fälle erfasste die Polizei hier. 95 waren es in Lichtenberg und 91 in Mitte. Auch in den Vorjahren wurden die meisten dieser Straftaten in Marzahn-Hellersdorf registriert. Insgesamt waren es knapp 12 Prozent, also fast jede achte Tat. Der Bezirk ist der viertkleinste der Stadt und verzeichnet trotzdem die meisten Fälle von Kindesmissbrauch. Wie kann das sein?
Um dieser Frage nachzugehen, hat die Berliner Morgenpost mit unterschiedlichen Experten gesprochen. Auf der Suche nach Antworten haben wir dabei Erklärungsansätze und Hinweise gefunden, die helfen können, diese grausamen Taten besser zu verstehen und so auch zu verhindern. Egal ob in Marzahn-Hellersdorf oder anderswo. Denn darin sind sich die Experten einig: Pädokriminelle Straftaten gibt es überall. Die Zahlen, auf die wir uns in diesem Artikel beziehen, unterliegen darüber hinaus einer bedeutsamen Einschränkung. Sie bilden lediglich das Hellfeld ab, also die Taten, die auch ans Licht kommen. Es ist davon auszugehen, dass das Dunkelfeld deutlich größer ist.
Sexueller Missbrauch von Kindern: Das sind die Täter
Wer an pädokriminelle Täter denkt, der denkt wahrscheinlich an Lieferwagen mit verspiegelten Scheiben oder Männer auf Spielplätzen. Die Realität ist – nicht immer, aber oft – eine andere. „In mehr als der Hälfte der Fälle (56,9 %) bestand zwischen Opfer und dem oder der Tatverdächtigen nachweislich eine Vorbeziehung“, heißt es im Bundeslagebild Sexualdelikte zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen in Deutschland.
Auch Peter A. war ganz nah dran an den Familien seiner Opfer. Er war ihr Nachbar, lebte im selben Kiez wie die Familien. Er betreute die Mädchen und ihre Brüder regelmäßig in seiner Wohnung, sie durften bei ihm daddeln, zocken, glotzen. Das siebenjährige Mädchen badete in seiner Wohnung, während D. zusah. Auf seinem Handy wurden Nacktbilder des Mädchens gefunden. Die Kinder übernachteten auch bei ihm in seiner Einzimmerwohnung. In einer dieser Nächte soll D. sich an der Zwölfjährigen vergangen haben.
Pädophilie, Pädosexualität und Pädokriminalität
Der Begriff „pädophil“ beschreibt keine Handlung, sondern eine Störung der Sexualpräferenz, bei der Erwachsene eine sexuelle Fixierung auf Kinder haben. In der Wissenschaft ist der Begriff umstritten, die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs empfiehlt den Begriff „Pädosexualität“ zu verwenden, da der Begriff „Pädophilie“ übersetzt „Kinderliebe“ bedeutet. Der Begriff „Pädokriminalität“ bezeichnet Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern, unabhängig davon, ob der Täter pädosexuell ist.
Nicht alle Menschen, die pädosexuell sind, missbrauchen Kinder. Und: Nicht alle Menschen, die Kinder missbrauchen, sind pädosexuell. Das erklärt Lukas Moretti, Geschäftsführer des Vereins Hilfe für Jungs, der Betroffene von sexuellem Missbrauch und ihre Angehörigen berät. Vielen Tätern geht es um „Macht“, „Gewalt“ und „Dominanz“, wie Moretti sagt. Pädokriminelle Täter gehen äußerst manipulativ vor. Sie spielen mit den Gefühlen von Kindern. Wanzen sich an sie ran. Machen ihnen Angst. Setzen sie unter Druck. Sagen Sachen wie „Du darfst niemandem erzählen, dass das passiert, sonst kommen deine Eltern ins Gefängnis“ oder „Wenn du das verrätst, bring’ ich dich um.“
Situationen, in denen „weniger Augenmerk auf den Kindern liegt“, wie Moretti sagt, können Täter ausnutzen. Wenn Familien von Armut oder Suchterkrankungen betroffen sind, zum Beispiel. Wenn „Bezugspersonen“ kaum oder keine Zeit für Kinder haben. Und wenn sich Kinder einsam fühlen.
„Das ist ein Einfallstor“: Pädosexuelle Täter treffen in Marzahn-Hellersdorf auf sozial schwächere Familien
Knapp 295.000 Menschen leben in Marzahn-Hellersdorf, in jedem fünften Haushalt wohnt eine Familie. Viele von ihnen sind auf Unterstützung angewiesen. Aus ganz unterschiedlichen Gründen. 36 Prozent aller Familien in Marzahn-Hellersdorf sind alleinerziehend – Höchstwert in Berlin. Knapp ein Viertel der Kinder im Bezirk wächst in einer Familie auf, die auf staatliche Grundsicherungsleistungen angewiesen sind. Hinzu kommt: Die Kinder im Bezirk schneiden bei der Einschulungsuntersuchung regelmäßig besonders schlecht ab. Über die soziale Lage vieler Familien im Bezirk, sagt der Bezirksstadtrat für Jugend Gordon Lemm (SPD): „Das ist ein Einfallstor.“ Ein Einfallstor für pädokriminelle Straftäter.
Das scheint auch im Fall Peter A. so gewesen zu sein. Sein zwölfjähriges Opfer lebt nicht zu Hause, sondern in einer betreuten Einrichtung. Vor Gericht wird das Bild einer sehr schwer erziehbaren Jugendlichen gezeichnet. Die Mütter der Kinder waren froh über die Unterstützung bei der Betreuung, froh über Zeit für sich, froh darüber, dass jemand ihren Kindern Aufmerksamkeit schenkt. „Es war toll für die Kinder“, sagt eine der Mütter. Die Kinder wurden regelrecht abgeschoben, sagt der Richter bei der Urteilsverkündung.
Experte über Pädokriminalität: „Es ist wichtig zu begreifen, dass ganz, ganz viel in der Familie passiert“
Erschwerend hinzu kommen in Marzahn-Hellersdorf örtliche und historische Besonderheiten, die es Tätern einfacher machen könnten. Das glaubt Benjamin Jendro, der Pressesprecher der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Berlin. In den Großsiedlungen in den Ortsteilen Marzahn und Hellersdorf stehen hohe Plattenbauten, oft für jeden zugänglich. Elf bis 25 Stockwerke hoch. „Hier herrscht ein Stück weit Anonymität“, sagt Jendro. Anonymität, so vermutet es der Polizeisprecher, die die Täter schützt. Gleichzeitig, so Jendro, würden sich viele Kinder im Bezirk freier bewegen als anderswo. Von der Schule ohne Eltern nach Hause gehen oder auf den Spielplätzen, in den großen grünen Hinterhöfen.
Phänomen „Offene Wohnungen“
Als „Offene Wohnungen“ werden Privatwohnungen pädokrimineller Straftäter bezeichnet, die von Kindern und Jugendlichen aufgesucht werden. Die Täter locken ihre Opfer mit Konsolen, Geld, Drogen, Essen oder Alkohol in ihre Wohnung und bauen so eine Beziehung zu den Kindern und Jugendlichen auf. In der Folge kann es zu sexuellen Übergriffen kommen. Selbst wenn die Wohnungen der Polizei bekannt sind, ist es nicht immer einfach gegen die Täter zu ermitteln.
Darauf, dass die Wohnstruktur auch Einfluss auf das Tatgeschehen haben kann, deuten auch die Daten der Polizei hin. In den Großsiedlungen im Norden von Hellersdorf und in der Mitte von Marzahn wurden in den vergangenen Jahren mehr Missbrauchstaten registriert als in anderen Teilen des Bezirks (auch im Verhältnis zur Zahl der Einwohner).
Spätestens an dieser Stelle ist es noch einmal ganz wichtig zu betonen: Weder ein gutes Einkommen, noch ein Einfamilienhaus schützen vor Missbrauch. „Es ist wichtig zu begreifen, dass ganz, ganz viel in der Familie passiert“, sagt Moretti. Und im sozialen Umfeld: also auch bei Freunden, im Sportverein, in der Kirche. Sexualisierte Gewalt gegen Kinder, darin sind sich Lemm, Moretti, Jendro und Co. einig, geschieht überall. Das zeigen auch die Zahlen der Polizei Berlin: 5200 Straftaten zählte die in den vergangenen sechs Jahren in der Hauptstadt. Von Marzahn-Hellersdorf bis Neukölln, von Reinickendorf bis Tempelhof-Schöneberg.
Vielleicht ist eine Erklärung für die hohen Fallzahlen in Marzahn-Hellersdorf, dass es nicht mehr potenzielle Täter im Bezirk gibt als anderswo, sondern dass Täter hier auf ein Umfeld treffen, das sie leichter ausnutzen können.
Pädokriminalität: Wie man Kinder besser schützen kann
Kinder brauchen bis zu sieben Anläufe, bis sie Hilfe finden. Die Präventionsarbeit mit den Kindern, so Moretti, sei das „letzte Puzzleteil“. Die eigentliche Präventionsarbeit fände mit Lehrern, Trainern und Eltern statt. Denn es ist die Aufgabe von Erwachsenen, ein Umfeld zu schaffen, in dem Kinder sich sicher fühlen können und offen sprechen dürfen.
Moretti sagt, es sei ein Muss, dass Kinder benennen können, was ein „Penis“ und was eine „Vulva“ ist. Dass sie wissen, wer sie wo, wann und wie berühren darf. Und, so Moretti, dass sie wissen, dass es Menschen gibt, denen sie so sehr vertrauen können, dass sie ihnen auch schlimme Dinge erzählen dürfen. Selbst dann, wenn sie unter Druck gesetzt werden.

Der Bezirksstadtrat für Jugend, Familie und Gesundheit von Marzahn-Hellersdorf, Gordon Lemm (SPD), posiert für ein Foto in seinem Amtssitz.
© BM | Oskar Paul
In Marzahn-Hellersdorf gibt es keine spezialisierte Beratungsstelle für Betroffene und ihre Angehörigen. Die drei bekannten Beratungsstellen für sexualisierte Gewalt gegen Kinder, Kind im Zentrum, Wildwasser und Hilfe für Jungs liegen allesamt im Zentrum oder Westen der Stadt. „Der Alexanderplatz ist so weit weg wie New York“, sagt Lemm. Und meint: Viele Kinder verlassen den Bezirk nicht. „Es braucht eine eigene Beratungsstelle“, sagt der Stadtrat. Und fordert dafür Geld vom Land Berlin, um eine solche Beratungsstelle zu eröffnen.
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Warum kann der Bezirk das nicht selbst finanzieren? Lemm sieht die Verantwortung dafür beim Senat. Er müsste für eine derartige Stelle bei anderen Ausgaben im Jugend- und Gesundheitsamt sparen, der gerade beschlossene Haushalt ist knapp bemessen. Und, von so einer Beratungsstelle, würden auch andere Bezirke profitieren, argumentiert Lemm. Lichtenberg und Treptow-Köpenick, mit denen man sich in Gesprächen befinde.
Peter A. wird, nach wochenlangem Prozess, zu einer Haftstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt. Das Gericht sieht es als erwiesen an, dass A. das zwölfjährige Mädchen schwer missbraucht und Nacktbilder der Siebenjährigen angefertigt hat. Während der Urteilsverkündung nickt A. aufmerksam. Der Richter, der bei A. die Tendenz beobachtet, die Schuld bei anderen zu suchen, rät ihm, sich seiner „Verantwortung“ zu stellen. Denn letztendlich ist es egal, wo eine Tat geschieht. Egal ob in Marzahn-Hellersdorf oder anderswo. Die Schuld, die liegt immer bei den Tätern.
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