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Thüringen: An Schulen droht eine rechte Vorherrschaft | ABC-Z

Die Türen von Gewerkschaftshäusern sind traditionell geöffnet. Wer Hilfe sucht, ist willkommen und soll sich sicher fühlen. Noch ist auch die Tür des Gewerkschaftshauses in Erfurt offen, in dem der Flüchtlingsrat sowie die Mobile Beratung in Thüringen für Demokratie – gegen Rechtsex­tremismus (MOBIT) ihre Büros haben. Für Rechtsextremisten ist das Gewerkschaftshaus ein Feindbild. Neonazis trieben sich filmend im Gebäude herum, und Autoreifen wurden zerstochen. Ein Mitarbeiter von MOBIT wurde auf dem Hof mit dem Tod bedroht.

Von solchen Einschüchterungsversuchen extremer Rechter lässt sich Romy Arnold, die Leiterin von MOBIT, nicht verängstigen, aber sie sei wachsamer und vorsichtiger geworden. Die Beratungsstelle hat die Sicherheitsmaßnahmen in den vergangenen zweieinhalb Jahren verstärkt. Die Tür zum Flur von MOBIT ist jetzt abgeschlossen. Bevor Arnold abends nach Hause fährt, tritt sie zuerst gegen die Reifen ihres Autos. Es sei nervig, sagt sie, aber man gewöhne sich daran. Dann ein Knall. Arnold springt auf, geht zum Fenster. „Keine Nazis“, sagt sie. „Nur ein paar Jungs mit Böllern.“

Mehr Anfragen als je zuvor

Von Nazis wurde die 1986 in Arnstadt geborene Arnold erstmals mit dreizehn Jahren bedroht. Damals umzingelte eine Gruppe von Skins sie und ihre Freundin. Den ersten Kreis der Angreifer bildeten „Babyskins“, den zweiten Erwachsene mit Baseballschlägern. Die Mädchen wurden beschimpft, angerempelt und angespuckt. Schließlich ließen die Nazis von ihnen ab. Dass sich Romy Arnold heute so stark gegen rechts engagiert, hat auch mit dieser Erfahrung in ihrer Jugend zu tun.

Engagiert sich für die Demokratie: Romy Arnold von der  Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus in Thüringen stellt bei der Bundespressekonferenz den Jahresrückblick 2025 vor.Picture Alliance

Vor Kurzem stellte sie den MOBIT-Jahresbericht 2025 vor. „Die extreme Rechte hat sich im Alltag verfestigt, und die Normalisierung von Rechtsextremismus ist vorangeschritten“, sagt sie. Der Thüringen-Monitor zeige, dass es schon immer ein Potential von Menschen mit einem in Teilen rechtsextremen Weltbild gab sowie eine ausgeprägte gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die Zahl der Menschen, die in allem Fremden eine Bedrohung ihrer Existenz sehen, lag lange bei etwa zwanzig Prozent. Hoch, aber Arnold dachte, der „Schwamm“ sei damit so gut wie vollgesogen. Heute werde man für diesen Glauben belächelt. „Wir bewegen uns in Thüringen auf die 40 Prozent zu, die jetzt die AfD wählen würden. Ich würde nicht mehr sagen, dass das Potential damit ausgeschöpft ist. Das in Teilen rechtsextreme Weltbild der AfD sickert längst in Wählerschichten und Milieus, von denen es früher hieß: ,Niemals!‘“

Noch nie bekam die Beratungsstelle gegen Rechtsextremismus, die mit fünfzig Teams in allen Bundesländern vertreten ist, so viele Anfragen wie in diesem Jahr, besonders in Berlin und in Mecklenburg-Vorpommern. Das ist einerseits eine gute Nachricht: Jene, die die Demokratie im Alltag verteidigen, anstatt nur im Freundeskreis Reden zu halten, suchen Unterstützung. Beunruhigend ist, dass die radikalen Rechten ihre Raumeroberung erfolgreich fortsetzen. An Thüringens Schulen wurden 2024 laut Bildungsministerium 120 rechte, rassistische oder extrem rechte Vorfälle registriert, 64 Prozent mehr als im Vorjahr. Dazu gehören Hakenkreuz-Schmierereien, das Zeigen des Hitlergrußes, antisemitische und rassistische Hetze sowie körperliche Gewalt. Arnold sagt: „In einigen Schulen droht eine rechte Hegemonie.“

Angst vor dem Wort Demokratie

Neonazis suchen sich gezielt Schulen aus, um Nachwuchs zu rekrutieren. Arnold erzählt von einer Schule im ländlichen Osten Thüringens, wo sich Rechtsradikale vor den Toren herumtrieben und Schüler ansprachen. Der Hausmeister war aufmerksam, informierte die Schulleitung, die nicht wegsah, sondern sich mit dem Problem an die mobile Beratung wandte. „In einem solchen Fall sucht man auch nach Verbündeten. Gibt es Schüler mit einem ausgeprägten demokratischen Bewusstsein, die man mit an Bord holen kann? Wir haben Lehrer fortgebildet und mit der örtlichen Polizei zusammengearbeitet. Wir haben über mehrere Monate ein Handlungskonzept entwickelt, und die Schule hat eine Botschaft gesendet: Wir wollen euch hier nicht haben – mit Erfolg.“

Es gibt aber auch Fälle, da stehen von der Schulleitung im Stich gelassene Lehrer einem Klassenkollektiv gegenüber, bei dem sie es aus Furcht vor verbalen Angriffen nicht einmal mehr wagen, die Wörter Vielfalt und Demokratie in den Mund zu nehmen. „Die Lehrer hören von der Leitung, sie sollen neutral sein. Und plötzlich heißt es, für Demokratie zu sein, sei schon nicht mehr neutral. Hier hat eine massive Diskursverschiebung stattgefunden.“ So verstanden wird Neutralität zum Argument für Nichthandeln. Sie verschiebt das Kräfteverhältnis zugunsten der Rechten.

Anfang des Jahres verübten ein Achtzehn- und ein Zwanzigjähriger einen Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft in Schmölln und hinterließen auf der Fassade Hassbotschaften und die Buchstaben L. V. W. Obwohl Romy Arnold und ihr Team die Verästelungen innerhalb der rechtsradikalen Szene sehr gut kennen, wusste niemand, wofür die drei Buchstaben stehen. Seit die Generalbundesanwaltschaft Anklage erhoben hat, wissen sie, dass es sich um eine mutmaßlich rechtsterroristische Jugendgruppe handelt – die Letzte Verteidigungswelle. „Deren Mitglieder sind teilweise erst vierzehn, fünfzehn Jahre alt“, sagt Arnold. Ziel der L. V. W. ist es, durch Gewalttaten vornehmlich gegen Migranten und politische Gegner einen Zusammenbruch des demokratischen Systems zu erreichen.

„Turboradikalisierung“ der Jugend

Die Zunahme autoritärer, ausgrenzender und antidemokratischer Haltungen ist ein schleichender gesellschaftlicher Prozess gewesen, der sich über Jahre normalisiert hat. Der Begriff Rechtsruck trifft Arnolds Ansicht nach auf die Jugend zu. Mehr noch: Sie spricht von einer „Turboradikalisierung“, die sich in Telegram- und Whatsapp-Gruppen innerhalb weniger Jahre, teils sogar innerhalb von Monaten vollzogen hat. Die Krisenerfahrungen – Klimawandel, Corona-Pandemie, Ukrainekrieg, die drohende Wehrpflicht – haben Jugendliche und junge Erwachsene anfälliger für radikale Ideen gemacht. „Zahllose junge Menschen fühlten sich in der Corona-Pandemie von allen demokratischen Parteien, die sich nicht für ihre Interessen starkgemacht haben, verraten und verkauft.“

Die von Arnold beschriebene Radikalisierung entwächst auch einer politischen Leere und dem Gefühl, übersehen und belächelt worden zu sein. Die AfD hat diese Sehnsucht nach einem neuem Selbstbewusstsein früh erkannt und ködert Jugendliche im ländlichen Raum Ostdeutschlands mit einem attraktiven Identitätsangebot. Arnold fasst es so zusammen: „Ihr seid jung, ihr seid ostdeutsch, darauf könnt ihr stolz sein. Wer sonst sagt das? Wo gibt es ein positives Identifikationsangebot für junge Ostdeutsche im ländlichen Raum? Nirgendwo.“

Außerhalb ihrer Arbeit für MOBIT wird Romy Arnold immer wieder mit einer Frage konfrontiert, bei der sie sich inzwischen beherrschen muss, nicht die Augen zu verdrehen: „Was machen wir denn jetzt gegen rechts?“ Manchmal fragt sie zurück: „Was bist du bereit zu tun?“ Arnold findet, jeder, der die Demokratie wertschätzt, sollte sich diese Frage stellen. Aber sie spürt bei ihren Gesprächspartnern oft einen gewissen Widerwillen, sobald es um konkretes Handeln geht. Gleichzeitig trifft sie bei MOBIT viele Menschen, die den demokratischen Raum verteidigen, die sich entschieden gegen rechts positionieren. Gerade jetzt.

Wofür es früher zuallererst den Willen zum Engagement brauchte, ist heute Mut nötig; nicht Zivilcourage als einmalige Geste, sondern die Bereitschaft, mögliche Nachteile und Gefahren in Kauf zu nehmen. Bei der Bürgermeisterwahl im Landkreis Hildburghausen bekam der Neonazi Tommy Frenck vergangenes Jahr 25 Prozent der Stimmen. Arnold zieht den Hut vor jedem, der sich traut, im tiefsten ländlichen Raum ein Wahlplakat für eine demokratische Partei aufzuhängen. Natürlich ist es einfacher, wegzuschauen, wenn der Nachbar in der Kleingartenkolonie eine Reichsflagge hisst, anstatt ihn zur Rede zu stellen. Oder nicht zum Demokratiefest zu gehen aus Angst, Rechtsextreme könnten es überfallen.

In den Kneipen und wohligen Wohnzimmern der Stadt, wo Bedrohung ein abstrakter Begriff bleibt, lässt sich leicht über rechts reden und Haltung fordern. Verteidigt wird die Demokratie aber zunehmend dort, wo man sichtbar wird – und angreifbar.

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