1.387 Tage Krieg in der Ukraine: Tanzen zwischen Trümmern | ABC-Z

N ach fast vier Jahren des vollumfänglichen Krieges gibt es Dinge, die mich nicht mehr so erschrecken wie noch zu Beginn. Aber es zerreißt mir immer noch das Herz, wenn ich von Menschen höre, die vor dem Krieg an einen Ort geflohen sind, der ihnen sicherer erschien – und Russland sie dann trotzdem dort „einholt“
So erging es dem 17-jährigen Bohdan, meinem Nachbarn in meiner Heimatstadt Sumy. Er war im Sommer mit seinen Eltern und Geschwistern aus Krasnopillja, einer Kleinstadt an der russischen Grenze, gekommen. Für die Menschen, die dort wegen des Dauerbeschusses tagelang im Keller gesessen hatten und schließlich entkommen konnten, schien Sumy viel ungefährlicher. Aber dies erwies sich leider als Illusion.
Für die Menschen in der Ukraine ist der Krieg zum Alltag geworden. Trotz der Todesangst vor Luftangriffen und Kämpfen geht das Leben weiter: Die Menschen gehen zur Arbeit, zur Schule und zur Uni. Sie lieben, lachen, heiraten, bekommen Kinder, machen Urlaub. Sie trauern, sorgen sich – und hoffen auf Frieden. ➝ zur Kolumne
Als Bohdan im Juni zu einer Aufnahmeprüfung an der Uni unterwegs war, wurde Sumy von russischen Streitkräften mit einem Mehrfachraketenwerfer beschossen. Sechs Menschen starben, darunter Bohdan. Die trauernden Eltern schickten die anderen Kinder zu Verwandten in der Zentralukraine. Aber wissen sie, ob es dort sicherer ist?
Mehr als 200.000 russische Kriegsverbrechen
Ende November hat der ukrainische Geheimdienst vier russische Kommandeure identifiziert, die diese tödlichen Angriffe auf die Stadt geplant und angeordnet haben. Bis heute sind etwa 200.000 solcher Kriegsverbrechen Russlands offiziell registriert. Darum enthält auch der Friedensplan, den die USA der Ukraine aufzuzwingen versuchen, einen Punkt über die Aufhebung der Sanktionen und die Einstellung der Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen.
Der massive Angriff auf Kyjiw am 29. November fügte der Liste dieser Verbrechen ein weiteres hinzu.
„Morgens um sieben gab es eine Explosion in der Nähe unseres Hauses“, erzählt die Kyjiwerin Oksana Samtschuk. Meinem Mann und mir war bei einem Blick aus dem Fenster klar, dass eine Drohne in der Nähe der Tanz- und Theaterstudios Artes eingeschlagen war. Das ist eine Filiale des gleichnamigen Theaters aus Sumy, wo auch unsere zehnjährige Tochter Alysa trainiert“, so Oksana.
Und tatsächlich: Die Drohne war drei Meter vom Studio entfernt explodiert und hatte das Foyer zerstört.
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Aus Sicherheitsgründen Filiale in Kyjiw eröffnet
„Die Artes-Studios gibt es schon seit 25 Jahren“, erzählt Gründerin Iryna Vosmeryk. „Als es in Sumy immer gefährlicher wurde, zogen viele unserer Schüler weg. Deshalb haben wir letztes Jahr eine Filiale in Kyjiw eröffnet. Die Kinder und unser Team sollten einen sichereren Trainingsort haben, falls in Sumy etwas passieren sollte.“
Den ganzen Tag räumten Eltern, Trainer, die Kinder selbest und Nachbarn die Trümmer weg
„Zum Glück wurde niemand verletzt“, sagt Iryna unter Tränen, während sie einen Pokal aus den Trümmern zieht. „Schrecklich, sich vorzustellen, was hätte passieren können, wäre die Drohne nur wenige Stunden später eingeschlagen.“ Den ganzen Samstag räumten Eltern, Trainer, die Kinder selbst und sogar Menschen aus der Nachbarschaft die Trümmer weg, machten sauber und vernagelten Fenster und Türen mit Sperrholzplatten.
Spendenkampagne gestartet
Taisija Chwostowa unterrichtet in den Artes-Studios Schauspiel. Früher war sie dort selbst Schülerin, heute ist sie eine bekannte Schauspielerin. Als die Drohne einschlug, startete sie sofort eine Spendenkampagne. Und weil sie so bekannt ist, hatte sie schnell eine beträchtliche Summe zusammen. Viele Menschen verstehen, dass Kinder solch einen Ort brauchen.
„Die meisten Säle des Studios sind unbeschädigt geblieben“, freut sich Taisija. „Aus Sicherheitsgründen hatten wir Kellerräume gemietet. Jetzt müssen wir schnell das Foyer und die Lüftungsanlage wiederherstellen. Das Festprogramm für den Nikolaustag müssen wir etwas verschieben, aber auf keinen Fall absagen. Die Kinder schreiben ständig im Chat, wann der Unterricht wieder beginnt. Und wir bekommen weiter Spenden.“
Die Ukrainer sind erschöpft, die Kriegsmüdigkeit nimmt zu und immer mehr Faktoren spalten die ukrainische Gesellschaft. Und doch zeigt sich gerade in solchen Momenten wieder die legendäre ukrainische Einheit und die Fähigkeit, unter Druck standzuhalten – jene innere Stärke, dank der das Land seit Jahren dem Aggressor trotzt.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey





















