Wie die Reit-WM 2026 den Vereinen helfen soll | ABC-Z

Zwischen der Anlage des Reit- und Voltigiervereins Butzbach und dem Turnierplatz des CHIO Aachen liegen knapp 250 Autobahnkilometer, doch es sind Welten, die diese beiden Orte voneinander trennen. Jedes Jahr findet in der Aachener Soers das größte Reitturnier des Planeten statt. Im kommenden August ist das Gelände mit seinen Stadien und Reitplätzen Schauplatz der Weltmeisterschaften in sechs Pferdesportdisziplinen. Olympiasiegerinnen und Weltmeister konkurrieren dann zwei Wochen lang um die Medaillen.
Beim Reit- und Voltigierverein Butzbach sind die Dimensionen einige Nummern kleiner. In der Reithalle am römischen Kastell in der hessischen Kleinstadt läuft die Voltigierstunde. Etwa 15 Mädchen haben sich in drei Gruppen aufgeteilt, jedes macht Turnübungen auf einem Schulpferd unter der Anleitung einer Trainerin. An diesem kalten Herbstabend ist das Aufwärmen vor dem Sport noch wichtiger – auch für die Pferde. Calio ist so knackig drauf wie die Temperaturen und galoppiert übermütig an der Longe. Seine überschüssige Energie darf er erst einmal loswerden, bevor die Kinder auf seinem Rücken losturnen. Der braune Pony-Wallach ist der neueste Bewohner der Butzbacher Stallgemeinschaft. Der Verein konnte sich das Schulpferd für den Reit- und Voltigierunterricht leisten, weil er bei „100 Schulpferde plus“ gewonnen hat, einem Wettbewerb der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN) und den Veranstaltern der Reit-WM 2026.
Betriebsschließungen drohen
Es sind die Pferde, die Aachen und Butzbach verbinden. In den Monaten vor WM-Beginn umso mehr. „Eine Weltmeisterschaft in Aachen, das wird dem Reitsport einen Push geben“, sagte die achtmalige Olympiasiegerin Isabell Werth als feststand, dass Aachen WM-Standort wird. Aber wie etwas pushen, wovon es immer weniger gibt? Die Zahl der Mitgliedschaften in Reitvereinen ist in den vergangenen zehn Jahren von 690.200 auf 657.994 gesunken. 2015 gab es in Deutschland noch 7593 Reitvereine, aktuell sind es 7031. „Wenn nichts passiert“, warnt Thomas Ungruhe, Leiter der FN-Abteilung Pferdesportentwicklung, „werden in wenigen Jahren etwa 20 bis 30 Prozent der Betriebe, die Schulpferde haben und Reitunterricht anbieten, schließen müssen.“ Während der Corona-Pandemie, als Sport in Gruppen nur unter strengen Auflagen stattfinden durfte, sei die Zahl der Schulpferde in Deutschland um rund 10.000 gesunken. Inzwischen warteten Interessierte durchschnittlich 4,4 Monate auf einen Platz in einer Reitschule. Ziel des Wettbewerbs ist deshalb, dass auch der Reitsport an der Basis einen WM-Effekt spürt, einen „Push“ eben. Bis Ende 2027 soll der Kauf von 100 Schulpferden ermöglicht werden.
In Butzbach sind die Wartelisten je nach Jahreszeit mal länger und mal kürzer. Im Frühling, wenn es wärmer wird, ist die Nachfrage naturgemäß größer als im Herbst oder Winter, wenn das Thermometer auch in der Reithalle einstellige Temperaturen zeigt. „Neue Mitglieder sind bei uns immer willkommen“, sagt Sina Fend, die Vorsitzende des Vereins. Der RuV ist eine engagierte Gemeinschaft, wurde vor bald 100 Jahren gegründet und ist mit seinen gut 270 Mitgliedern der größte Reitverein in der Wetterau. Vom Kleinkind bis zum Rentner kann dort jede und jeder Reiten und Voltigieren neu lernen oder wiedereinsteigen – entweder auf einem der acht Schulpferde oder mit dem eigenen Pferd. Acht sogenannte Pensionspferde leben ebenso auf der Anlage.
Die Schulpferde aber sind es, die den Reitbetrieb am Leben halten. Die Suche nach ihnen gestaltet sich zunehmend schwierig. Nicht jedes Pferd sei für den Reitschul-Unterricht geeignet, sagt Sina Fend. Im Idealfall sollen sie sowohl erwachsene Wiedereinsteiger als auch junge Anfänger sicher durch die Bahn tragen. „Sie müssen lieb, ruhig, gelassen, geduldig und nervenstark sein“, zählt sie die nötigen Eigenschaften auf. Richtige Lehrmeister eben.

In den einschlägigen Online-Portalen gebe es kaum noch passende Angebote. Das liege auch daran, vermutet Fend, dass viele Züchter höhere Ansprüche hätten und den Schwerpunkt auf Sportpferde legten. Die Nachfrage nach deutschen Pferden ist weiterhin hoch – vor allem im Ausland, wo Millionenbeträge für die Tiere geboten werden und das Geld lockerer sitzt als im wirtschaftlich schwächelnden Deutschland. Aber auch für gut ausgebildete, erfahrene Schulpferde würden inzwischen fünfstellige Summen aufgerufen werden.
Was die Haltung von Schulpferden ebenso erschwert, sind, wie in allen Bereichen, gestiegene Preise. Im Reitsport speziell für Futter, Tierarztbehandlungen, Hufschmiedbesuche. Vieles kann Sina Fend übernehmen, sie ist selbstständige Heilpraktikerin und Hufpflegerin für Pferde – doch auch ihre Kapazitäten sind begrenzt. Da kam das Schulpferde-Projekt gerade recht. „Wir haben Calio über eine Händlerin gefunden“, erzählt sie. „Sein Gemüt hat uns überzeugt.“ Mit seinen sechs Jahren ist das Pony recht jung und muss selbst noch viel lernen. Deshalb war der Wallach günstig zu haben. 5000 Euro kostete er, genauso hoch war der Zuschuss, den der Verein über den Wettbewerb bekam.
Im Frühjahr bezog Coconut‘s Caliostro, so sein vollständiger Name, seine Box am Kastell in Butzbach. Langsam wurde er an seine Aufgabe als Schulpferd in Reit- und Voltigierstunden herangeführt, inzwischen ist er dort regelmäßig im Einsatz. Auch bei anderen Vereinsaktivitäten, wie jüngst beim Laternenlauf, ist er geduldig dabei – die Kinder schmückten ihn festlich und flochten eine Lichterkette in seine Mähne. Wenn er nicht seiner „Arbeit“ nachgeht, verbringt er die Zeit mit den anderen Schulpferden auf der Weide oder in seiner Box, aus der er beobachten kann, was an der Straße vor dem Vereinsgelände vor sich geht. Für die Reitkinder ist er ein Star. Wenn er seinen Kopf mit der weißen Nase in die Stallgasse reckt, muss er nicht lang auf Karotten und Äpfel warten.
„Ich kann hier nicht einfach das Handtuch schmeißen“
Genau wie seine sieben Kollegen ist Calio unschätzbar wertvoll für den Verein. „Den Schulpferden soll es bei uns gut gehen und sie sollen auch ihren Spaß haben“, sagt Sina Fend. „Sie stehen für uns an erster Stelle. Geht es ihnen nicht gut, können die Kinder nicht reiten und voltigieren.“ Fend und die weiteren Trainerinnen des Vereins kümmern sich nicht nur um die Ausbildung der Reitschüler, sondern auch um die der Pferde. Die Dreiunddreißigjährige hat selbst im RuV Butzbach reiten gelernt, lebte früher in der Nachbarschaft und ist dort „groß geworden“, sagt sie. Heute hält sie das Vereinsleben am Laufen. Inzwischen macht ihre eigene Tochter beim Voltigieren mit. Ihre Leidenschaft für die Pferde gibt Sina Fend weiter und sie hat stets die Schulpferde im Blick. Wie merkt sie, ob es einem der Tiere nicht gut geht? „In den Augen kann man viel erkennen.“ Ihr erster Blick, wenn sie morgens in den Stall kommt, geht in die Gesichter der Pferde. Denn mit ihnen steht und fällt alles.
„Die Reitschulen“, sagt auch Stefanie Peters, seien „für den Einstieg in den Pferdesport unverzichtbar“. Die Präsidentin des Aachen-Laurensberger Rennvereins, der jährlich den CHIO ausrichtet, weiß: „Auch die Top-Stars haben mal klein angefangen, in den allermeisten Fällen auf einem Schulpferd, das sie ihr Leben lang nicht vergessen.“
Ohne diese Basis könne es keinen Spitzensport geben. Im CHIO-Aachen-Podcast berichtete zum Beispiel Mannschaftsolympiasieger Frederic Wandres von seinen Anfängen. Der Dressurreiter stammt nicht aus einer pferdeaffinen Familie, sein Vater war Fußballtrainer. Statt zu kicken sei er „jeden Tag zwölf Kilometer mit dem Rad zum Stall gefahren, bei Wind und Wetter, ohne zu motzen“, erinnert er sich. „Hauptsache, ich kam zum Stall.“ Als Schüler habe er mit seiner Freundesgruppe Reitstunden genommen. Als die erste Zehnerkarte aufgebraucht war, blieb er als einziger dran. „Im Stall habe ich eine neue Clique gefunden und das zog sich durch meine ganze Jugendzeit durch.“ Bis zum Olympiasieg mit dem deutschen Team in Paris 2024.
Auf Schulpferde ist Wandres längst nicht mehr angewiesen, doch genau wie ihm damals ermöglichen sie heute vielen Kindern den Einstieg in den Turniersport. Regelmäßig fahren Sina Fend und ihre Trainerkolleginnen mit ihnen auf Wettbewerbe in der Umgebung und veranstalten Turniere auf der eigenen Anlage. Besonders talentierte Schülerinnen und Schüler werden in separaten Unterrichtsstunden gefördert. Ob eines der Kinder irgendwann einmal am CHIO Aachen teilnimmt? Vielleicht. Aber darum geht es in Butzbach nicht. „Uns geht es darum, die Grundlagen zu vermitteln“, sagt Fend. „Bei uns werden sie schon im Ponyclub von klein auf an das Pferd und an den Sport herangeführt.“ Das bedeutet auch: Die Kinder legen das Smartphone weg, bewegen sich an der frischen Luft, bekommen ein Gefühl für Körper und Balance und erfahren, was die Pferde brauchen, damit es ihnen gut geht.
Um das Wissen zu vermitteln, braucht es aber auch fähige Trainerinnen, deshalb legt Fend großen Wert darauf, dass alle regelmäßig Lehrgänge besuchen und sich fortbilden. Doch auch das kostet. Dazu kommt: Auf ehrenamtlicher Basis sind immer weniger Menschen in Vereinen tätig. Nicht nur im Reitsport. Laut dem Deutschen Olympischen Sportbund sehen sich 17,6 Prozent der Vereine durch den Mangel an Ehrenamt in ihrer Existenz bedroht. Von 2014 bis 2019 habe es einen Verlust von rund einer Million Engagierten gegeben. Das hat Folgen. „Ich kann hier nicht einfach das Handtuch schmeißen“, sagt Fend. Ohne Menschen wie sie, die in ihrer Freizeit für und mit dem Verein leben, geht im Reitsport nichts. Aber ohne Schulpferde gibt es vielleicht bald den Reitsport nicht mehr.





















