Wohnen

Er schüttelte die Faust: Hermann Hesses späte Briefe | ABC-Z

Um 1960 wird Hermann Hesse in der amerikanischen Hippie-Kultur allmählich zum Kultautor. In Berkeley, schreibt er in einem Brief erfreut, gebe es ein Studentencafé namens „Steppenwolf“. Bei der deutschen Kritik aber ist er wieder einmal unten durch. Im „Spiegel“ erscheint eine hämische „Hinrichtung“, die er gelassen nimmt: „Dass in Deutschland Schmähartikel über mich erscheinen, ist nach den übermäßigen Ehrungen und Feiern beinahe erfrischend.“ Mehr setzt ihm Karlheinz Deschners 1957 erschienene Polemik „Kitsch, Konvention und Kunst“ zu, auch wenn er vom „täppischen“ oder „drolligen Deschner“ spricht. Oder sich in der Manier eines Haikus gegen die Unbill wappnet: „Meng Hsiä sagt in solchen Fällen: ‚Knabe hat alten Kerl mit Dreck beworfen. Alter Kerl bürstet sich den Rock.‘“

Die Bürste kommt oft zum Einsatz in Hesses Briefen der letzten Lebensjahre 1958 bis 1962, dem neunten und vorletzten Band von Volker Michels’ verdienstvoller Edition. Keiner dieser Briefe ist nachlässig formuliert; viele sind glänzend geschrieben, in einer musikalischen, rhetorisch ausgefeilten Prosa, oft getragen von Menschenfreundlichkeit, nicht selten aber auch der Schubkraft der Verärgerung. Etwa darüber, dass das Tessiner Refugium Montagnola längst kein beschaulich verschlafenes Dorf mehr sei: „Von der Stadt und dem Tal herauf kam es unablässig uns entgegengekrochen: Parzellierung, Neubauten, Straßen, Mauern, Beton-Mischmaschinen, Rausch des Aufschwungs und Fieber der Grundstücksspekulation, Sterben des Waldes, der Wiesen, der Rebberge. Es dröhnte der Schlag des Niethammers auf den Öltanks.“ Und dann die Touristen! Einer brennt mit seiner weggeworfenen Zigarette Ostern 1961 den kleinen Kastanienwald ab, der zu Hesses Anwesen gehört. Ein anderer lässt sich vom Schild an seiner Pforte („Bitte keine Besuche!“) nicht abschrecken und „marschiert rüstig in Garten und Haus hinein (…). Dieses Pack macht mir das Leben seit Jahren zur Hölle. Ich lebe als Tier in einem zoologischen Garten, auf allen Seiten stehen Gaffer an den Gittern und Zäunen“ – so die Klage in einem Brief vom Juli 1959.

Warum muss jede dritte Abiturientin eine Arbeit über Hesse machen?

Während fiktive Werke nach dem „Glasperlenspiel“ kaum noch entstehen, sind die Briefe im letzten Lebensjahrzehnt Hesses wichtigste Prosaschriften. Im konkreten Gegenüber findet er noch zu Form und Formulierungen; der Brief ist, genau genommen, die ideale Form für diesen Schriftsteller, der immer schon ein Bekenner war. Zahllose Menschen suchen bei ihm Rat und Hilfe, und bisweilen ächzt der Einundachtzigjährige, dass seine Kraft und Zeit „durch einen beinah täglich erneuerten Strom von fremdem Unglück verzehrt werden“. Dazu gehören auch die Nöte der Schüler, die sich wegen der geforderten Interpretationen an ihn wenden. „Warum muss jede dritte Abiturientin eine Arbeit über Hesse machen? (…) Keine Woche ohne ein paar solcher Briefe. Da schüttelt man nicht mehr den Kopf, sondern die Faust.“

Hermann Hesse: „Die Briefe 1958 bis 1962“.Suhrkamp

Hesse stirbt am 9. August 1962. Zwei Tage zuvor hat er in seinem letzten Brief geschrieben: „Wir sind ein Spitälchen geworden. Geblieben ist uns die Fähigkeit, Lektüre und Musik zu genießen.“ Davon gibt dieser Briefband Auskunft. Bei aller Körperschwäche absolviert Hesse noch ein erstaunliches Lektürepensum, mit dem er geistige Frische beweist. Er rühmt die frühen Bücher von Peter Weiss und Uwe Johnson und ist beeindruckt von Lampedusas „Leopard“. Eingestreut in die Briefe finden sich pointierte Charakterisierungen von Autoren: „Klabund hatte, ähnlich wie Brecht, eine merkwürdig eingehende, flüssige und aromatische Vers- und Reimkunst, es fiel ihm leicht und er ließ die Verse fallen wie ein Baum die Blüten.“ Oder: „Mit Thomas Mann konnte man auch so schön lachen, er reagierte auf irgendeine Drolligkeit, die man ihm mitteilte, mit einem Vergnügen und Behagen, das ihn um Jahrzehnte verjüngte.“ Überraschend begeistert sich der alte Hesse für zwei Autoren, gegen die er lange Vorbehalte hegte: Immer wieder rühmt er einen Briefband des 1956 verstorbenen Gottfried Benn sowie Ernst Jüngers Essay „An der Zeitmauer“.

Mit Jünger ist er sich einig, dass man im Spätherbst eines Weltzeitalters lebe, überall Niedergang, „Ausrottung unzähliger Tier- und Pflanzenarten, Hinwelken des Schönen und Wohltuenden im Bild der Städte und Länder“ sowie eine drohende „Überwältigung des Menschen durch seine Maschinen“. Kurz: „Wir sind unterwegs zu jener Stunde, in der nach der indischen Vorstellung der Gott Shiwa die Welt im Tanz zertrampelt, um Raum für eine neue Schöpfung zu schaffen.“

Worüber Hesse hinwegsah

Nach Indien und Fernost richten sich die Gedanken Hesses nun immer öfter. Er freut sich, dass seine Erzählung „Siddharta“ in neun indische Sprachen übersetzt wird. Das nachhaltigste Leseerlebnis verschafft ihm sein Vetter Wilhelm Gundert mit der Übersetzung des „Bi-Yän-Lu“, eines Klassikers der Zen-Literatur. In seinen begeisterten Briefen an Wilhelm sieht Hesse darüber hinweg, dass der Vetter als Hamburger Professor ein überzeugter Nationalsozialist war. Zu ergriffen ist er über die von Wilhelm und ihm selbst geleistete Fortsetzung der fernöstlichen „Sendung“ des Großvaters Hermann Gundert, der jahrzehntelang in Indien wirkte und dort immer noch in guter Erinnerung sei, wie ihm Bundespräsident Heuss von einem Staatsbesuch berichtet.

Mehrfach ist in den Briefen vom Antisemitismus die Rede – Hesse war selbst mit einer Jüdin verheiratet. Wie heute Götz Aly begründet er die Zunahme des Antisemitismus in der Weimarer Repu­blik mit einem Neid-Komplex der von multiplen Krisen gedemütigten Deutschen auf eine erfolgreiche Minderheit. Schon 1922 hatte er in einem Artikel die „blödsinnige, pathologische Judenfresserei der Hakenkreuzbarbaren und ihrer zahlreichen, namentlich studentischen Anhänger“ attackiert. Das hindert ihn aber nicht, sich in einem Brief vom März 1959 abfällig über den jüdischen Kritiker Alfred Kerr zu äußern: „Die instinktive Abneigung, die er gegen mich empfand, wurde von mir in früheren Jahren, als es ihm noch gut ging und er noch in Berlin seine koketten Artikel schrieb, herzlich erwidert. Mit seiner Emigration hörte das auf, da tat er mir nur noch leid. Doch kann man nachträglich wohl sagen, dass Erscheinungen wie Kerr sehr dazu beigetragen haben, harmlose deutsche Pa­trioten zu Antisemiten zu machen.“ Unweigerlich stellt man diese Passage neben Thomas Manns berüchtigte Äußerungen über Kerr im Tagebuch 1933.

Nein, Hesse ist nicht der milde Mönch von Montagnola, der Konflikte wegmeditiert. Auch in seinen späten Briefen erweist er sich als wacher Zeitgenosse, der seine heftigen Emotionen nicht unter Verschluss hält. Das macht diesen Band, der als Zugabe noch eine 250 Seiten umfassende Nachlese mit neu entdeckten Briefen aus den Jahren bis 1932 enthält, zum Lektüreerlebnis. Am Ende ist Hesse auf Bluttransfusionen angewiesen und schafft kaum noch den Weg in den Garten. Immerhin, zur Gebrechlichkeit und „Verdrießlichkeit“ des Alters hat der Briefschreiber dann doch eine Altersweisheit parat: „Man kann da nichts tun als sich selber auslachen.“

Hermann Hesse: „Noch lacht der Tag, noch ist er nicht zu Ende“. Die Briefe 1958–1962. Herausgegeben von Volker Michels. Suhrkamp Verlag, Berlin 2025. 643 S., geb., 68,– €.

Back to top button