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Kolumne „Hin und weg“: Die Verlegung des Nordpols – Reise | ABC-Z

Fragen nach der eigenen Identität treiben nicht bloß queerbewegte junge Menschen um. Wer bin ich, wer will ich sein, wie sehen mich andere? Das sind existenzielle Themen, die nicht zuletzt auch für Orte des Tourismus von hoher Relevanz sind. Bereits so lange es Reiseziele gibt, eifern viele von ihnen role models nach: Dresden will nicht einfach schnöde Dresden sein, sondern gefällt sich als Elbflorenz. Andere Städte definieren sich als Venedig des Nordens oder Paris des Ostens. Oder werden von anderen so gelesen, teilweise gegen ihren Willen. Wenn es heißt, hier oder dort gehe es zu wie in der Bronx, dann ist die Intention dahinter eine unerwünschte Herabsetzung und nicht ein Lob wie bei der Zuschreibung Toskana der Oberpfalz. Und kann von den Gemeinten leicht als Rassismus verstanden werden. Sofern man das Bronx-Image nicht trotzig ins Positive wendet und offensiv stolz darauf ist, nicht so spießig zu sein wie … ach, es ist, wie immer, kompliziert.

Und da ist das Thema der kulturellen Aneignung noch gar nicht angeschnitten. Hat jemand mal die Schweiz mitsamt ihrer imposanten alpinen Geografie gefragt, was das mit ihrem Gefühlshaushalt macht, dass jede schlampig dahingewellte Hügellandschaft sich als fallweise Usedomer oder Amshausener Schweiz tituliert? Original und Kopie, Alleinstellungsmerkmale und deren paradoxe Inflation, Spieglein, Spieglein an der Wand … – man hat auch als touristische Destination seine liebe Mühe mit dem Selbstbild.

Einen kuriosen – man kommt kaum umhin zu sagen: schizophren anmutenden – Spin hat sich nun ein exklusives Ferienresort auf den Malediven überlegt. Eigentlich würde man es angesichts des Klimawandels andersherum erwarten: dass nämlich in der Antarktis demnächst Palmen Wurzeln schlagen und zugleich Spitzbergen den Malediven Konkurrenz macht als Schnorchel-Revier. Aber nein, die Malediven exportieren nicht Tropisches, sondern importieren Polarwelten. Denn sie verlegen den Nordpol in den Indischen Ozean.

„Welcome to the North Pole“, lockt die besagte, auf einer Privatinsel gelegene Ferienanlage und verheißt um Weihnachten herum zwei Wochen lang ein Winter-Wunderland. Wer seine Rentiere vorspannt und auf seinem Schlitten auf die dann zum Weihnachtsdorf mutierte Malediven-Insel jettet, kann eine „Christmas Tree Lighting Ceremony“ miterleben, sich von Santa und Mrs. Claus zu einem Dinner einladen lassen und bei den „Movie Nights under the Polar Skies“ Weihnachtsfilme am Strand anschauen. Was man sich in Äquatornähe eben so unter Nordpol vorstellt. Da nun aber der Klimawandel auch vor den Malediven nicht Halt macht, kann eine geschlossene Eisdecke nicht durchgängig garantiert werden. Deshalb ist für den ersten Weihnachtsfeiertag sicherheitshalber eine „Santa’s Sun & Splash Pool Party“ angesetzt.

Der Autor lebt in einer Stadt, die sowohl Isar-Athen ist als auch die nördlichste Stadt Italiens.
Der Autor lebt in einer Stadt, die sowohl Isar-Athen ist als auch die nördlichste Stadt Italiens. (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
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