Ist ein Narzisst psychisch laborieren? Psychologin kritisiert Änderung bei Diagnose | ABC-Z

- Einst galt Narzissmus als Persönlichkeitsstörung
- Die neue Leitlinie der WHO sagt nun etwas anderes
- Was eine Psychologin daran kritisch sieht, lesen Sie hier
Psychiatrische Diagnosen bringen Ordnung in das Chaos menschlicher Leiden und geben Betroffenen und Angehörigen eine Struktur. Jahrzehntelang gehörten Persönlichkeitsstörungen zu den festen Begriffen des medizinischen Klassifikationssystems – unterteilt in Typen wie narzisstisch, zwanghaft, dissozial, paranoid oder Borderline. Doch das Klassifikationssystem ICD-11 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verfolgt einen anderen Weg.
Wer in der aktuellen Version nach dem Begriff Narzissmus sucht, stößt auf eine Leerstelle: Während die ICD-10 die narzisstische Persönlichkeitsstörung noch unter dem Code F60.8 („Sonstige spezifische Persönlichkeitsstörungen“) aufführte, fehlt sie im Nachfolger. Die Berliner Psychotherapeutin und Diplom-Psychologin Lisa Zimmermann erklärt, warum eine seit Jahrzehnten anerkannte Krankheit plötzlich verschwindet – und welche Kritik sie an diesem Schritt hat.
ICD-11: Narzissmus als Diagnose verschwunden
Das von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelte Klassifikationssystem ICD dient Ärzten, Psychiatern und Psychotherapeutinnen in der ganzen Welt zur einheitlichen Verschlüsselung von Diagnosen. Das Akronym ICD steht für International Classification of Diseases, auf Deutsch: „Internationale Klassifikation der Krankheiten“. Seit dem 1. Januar 2022 gilt die ICD-11 in ihrer elften Revision.
In Deutschland bildet der ICD-Code die Grundlage für die Abrechnung mit den Krankenkassen. Ohne gültige Klassifizierung lässt sich keine Behandlung dokumentieren oder vergüten. Darüber hinaus spielt die Codierung eine Rolle bei Versicherungen, Rentenansprüchen und anderen rechtlichen Verfahren. „Es ist das übergeordnete Klassifikationssystem“, sagt die Berliner Diplom-Psychologin Lisa Zimmermann.
Lisa Zimmermann ist Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin mit eigener Praxis in Berlin.
© Lisa Zimmermann | Lisa Zimmermann
Narzissmus Diagnose: Welche Kriterien jetzt gelten
Die neue ICD-11 verabschiedet sich von der alten Typenlehre der Psychiatrie. Statt Menschen in Kategorien wie „narzisstisch“ oder „zwanghaft“ einzuordnen, folgt das System nun einem dimensionalen Modell. Entscheidend ist nicht mehr der Typ einer Störung, sondern die Ausprägung bestimmter Persönlichkeitszüge und deren beeinträchtigender Effekt im Leben der Betroffenen, also der Schweregrad.
Das bedeutet in der Praxis: Fachleute beurteilen zunächst, ob eine Persönlichkeitsstörung vorliegt und falls ja, in welcher Ausprägung – leicht, mittel oder schwer. Grundlage sind zwei Kriterien: die Stabilität von Selbstbild und Selbstwertgefühl sowie die Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen und zu gestalten. Im zweiten Schritt werden die individuellen Merkmale der Störung beschrieben. Dafür sieht die ICD-11 fünf sogenannte Trait-Qualifier vor:
- negative Affektivität,
- Dissozialität,
- Distanziertheit,
- Hemmungsschwäche,
- und Zwanghaftigkeit.
Die neue ICD-Klassifizierung löse den Narzissmus in seine Bestandteile auf, erläutert Psychologin Zimmermann. „Für narzisstische Züge ist der sogenannte Trait-Qualifier Dissozialität relevant, der Aspekte wie Grandiosität, mangelnde Empathie und Selbstbezogenheit erfasst“, sagt sie. Zudem erlaube das neue System Überschneidungen: Eine Person könne sowohl dissoziale als auch zwanghafte Merkmale zeigen, ohne dass sich diese ausschließen. So spiegelt die neue Codierung die Komplexität von Narzissmus besser wider als vorherige Versionen.
ICD-11 und Narzissmus: Warum die WHO die Diagnose gestrichen hat
Die WHO begründet die Streichung ganzer Kategorien wie der narzisstischen Persönlichkeitsstörung mit einer besseren wissenschaftlichen Vergleichbarkeit. In den Begleitdokumenten zur ICD-11 heißt es, die bisherigen Diagnosen hätten zu viele Überschneidungen mit anderen Störungsbildern gezeigt. Zudem gebe es deutliche kulturelle Unterschiede in der Bewertung von Persönlichkeitsmerkmalen: Was in einer Kultur als narzisstisch gelte, könne in einer anderen als gesundes Selbstbewusstsein gelten.
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Ein dimensionaler Ansatz ist nach Ansicht der WHO international besser vergleichbar und einfacher anwendbar. Doch das sehen nicht alle so. Während Befürworter das neue Modell als zeitgemäß und flexibler loben, warnen Kritiker vor einer Verwässerung der Diagnostik – und davor, dass bisher klar benannte Leiden nun im System verschwinden. Auch Zimmermann gehört zu den Skeptikerinnen.
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„Wenn eine Diagnose verschwindet, verliert sie auch gesellschaftliche Sichtbarkeit“, sagt sie. Menschen mit ausgeprägten narzisstischen Problemen hätten es nun schwerer, ihr Leiden als psychische Störung zu erkennen und sich professionelle Hilfe zu suchen. Auch in der Praxis drohten Folgen. „Für Betroffene kann das sehr konkrete Konsequenzen haben – von der fehlenden Kostenübernahme bis hin zur Verweigerung therapeutischer Leistungen“, erklärt Zimmermann.
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Ob die ICD-11 das Diagnoseverfahren am Ende also wirklich moderner und effizienter macht oder die Komplexität der Störungen unrechtmäßig vereinfacht, wird sich erst mit wachsender Erfahrung zeigen. Sicher ist jedoch: Das Verschwinden des Begriffs „Narzissmus“ aus der Kodierung ist kein Anzeichen fehlender Relevanz. Das Phänomen bleibt bestehen – in der Gesellschaft, in Beziehungen, und in Therapiezimmern.












